Heft - Institut für Theorie ith
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Ralph<br />
Ubl<br />
153<br />
Entzweiung<br />
der<br />
Malerei<br />
Füttern der Pferde oder das Beladen der Karren,<br />
das <strong>für</strong> uns jedoch, die Betrachter des Gemäldes,<br />
als Unterbrechung dieser Routine aufblitzt: Ich<br />
meine die Staubwolke, die die Szene plötzlich<br />
erhellt, indem sie das von rechts oben einfallende<br />
Sonnenlicht reflektiert.<br />
Dass es sich zugleich um eine Licht- wie<br />
um eine Staubwolke, um einen Reflex und um<br />
weisses Pulver handelt, dürfte Géricault besonders<br />
fasziniert haben. Denn das Weiss, das auf den<br />
Pferdekörpern, den Karren und den Gebäuden<br />
liegt, ist nicht einfach Licht, es gleicht ebenso sehr<br />
jenem grau-weissen Pulver, aus dem die Wolke<br />
besteht. Insgesamt zeichnet sich das Gemälde<br />
durch scharfe Helldunkelkontraste aus – besonders<br />
deutlich in der Gegenüberstellung der Gipswolken<br />
und der dunklen Mauerö≠nungen –, die<br />
sich zugleich als Kontraste im materiellen Aufbau<br />
der Landschaft erweisen: Die Helligkeit verdichtet<br />
sich zum Weiss des Gipses, das Dunkel wiederum<br />
sickert ein in den schlammigen Boden. Licht<br />
und Materie gehen unmerklich ineinander über,<br />
Reflexe sind von Staubflecken, Schatten von<br />
Schlamm nur schwer unterscheidbar, und diese<br />
eigentümliche Vermischung von optisch-visuellen<br />
und materiellen Farben wird noch dadurch<br />
betont, dass auch das Gemälde selbst überaus<br />
dicht gemalt ist. Die Darstellung ist mit grösstem<br />
Nachdruck in ihrem Träger verankert, so als dürfte<br />
die Verwandlung von Erde in weissen Staub<br />
und von weissem Staub in Lichterspiel in keinem<br />
Fall dazu führen, dass sich das Bild von seinem<br />
materiellen Substrat löst. Das Gemälde nimmt<br />
vielmehr selbst an dem Kreislauf teil, den es darstellt,<br />
an der Transformation von dichter Materie<br />
in eine Lichterscheinung, die sich wieder als<br />
Staubschicht ablagern wird. So wie die Gipsbrennerei<br />
nicht einfach in der Landschaft steht, sondern<br />
diese tiefgehend verändert hat, so zeigt auch<br />
das Gemälde nicht einfach eine Landschaft mit<br />
Gipsbrennerei, sondern bezieht seine eigene<br />
Genese auf diese doppelte Produktion, auf die<br />
Herstellung von Gips und die damit einhergehende<br />
Scha≠ung einer neuen Landschaft, die ihr Zentrum<br />
in einer rudimentären Chemiefabrik hat.<br />
•<br />
Die beiden Stillleben und Eine Gipsbrennerei<br />
erscheinen, so gesehen, als Antipoden. Während<br />
Eine Gipsbrennerei die Malerei auf eine Welt<br />
mechanischer und chemischer Abläufe bezieht,<br />
auf Verkettungen, an denen Menschen als Glieder<br />
beteiligt und mit Nutztieren, Fuhrwerken, Wegen,<br />
Gebäuden und Öfen zusammengefügt sind, so<br />
wird die Malerei in Eine tote Katze und in Stillleben<br />
aus Leichenteilen als eine Kunst bestimmt, die<br />
im Nahraum zwischen Gemälde und Maler entsteht,<br />
in Reichweite des menschlichen Körpers,<br />
dessen eigene Dichte und Tiefe mit jener des<br />
Gemäldes in Korrespondenz tritt.<br />
Beides, die Dezentrierung der Malerei wie<br />
auch deren Rückzug auf den körperlichen Nahraum,<br />
lässt sich auf Das Floss der Medusa beziehen:<br />
Die Figuren der Schi≠brüchigen bilden eine<br />
in die Tiefe orientierte Pyramide, so, als wären ihre Körper die Elemente<br />
einer perspektivischen Konstruktion. Die Dramatik des Gemäldes<br />
resultiert denn auch vor allem aus dem Kontrast zwischen dem aufgerichteten<br />
Kollektivkörper und der Fläche des Meeres, die keine Orientierungspunkte<br />
bietet ausser dem gerade zwei Zentimeter messenden<br />
Motiv der rettenden Fregatte Argus, auf die die Körperperspektive der<br />
Figuren hin ausgerichtet ist. In dieser Körperperspektive deutet sich<br />
eine Bildtiefe an, die nicht nur optisch-visuell, sondern zugleich dicht<br />
und somatisch ist. So gesehen lässt sich Das Floss der Medusa als<br />
Konflikt zwischen zwei Raumformen begreifen – zwischen dem Raum<br />
des o≠enen Meeres, der das menschliche Handeln dem Haus, der Polis<br />
und dem Schlachtfeld entfremdet, und der verkörperten Perspektive<br />
der Figuren, die diesem Raum eine Richtung abgewinnt. In seinen<br />
kleinformatigen Werken löst Géricault diese Spannung des Historienbildes<br />
nach zwei Seiten hin auf: In den Londoner Bildern und L<strong>ith</strong>ographien<br />
sowie in Eine Gipsbrennerei geschieht dies durch Ö≠nung des<br />
Bildes auf einen unbehausten Zirkulationsraum, auf die Themen der<br />
Fahrt und der Ortlosigkeit, denen aber (anders als im Historienbild)<br />
kein Handlungsraum mehr abgerungen wird, da Menschen nur mehr<br />
als Glieder in routinierten Abläufen tätig sind. Gemälde wie Stillleben<br />
aus Leichenteilen und Eine tote Katze schliessen an Das Floss der Medusa<br />
hingegen insofern an, als sie eben jene physische Tiefe und Dichte,<br />
die sich in der Körperperspektive der Schi≠brüchigen andeutet, in<br />
einen intimen Nahraum übertragen, um die Malerei in der Sphäre körperlicher<br />
Reichweite einzuhegen.<br />
Wir haben es daher mit einem Zwiespalt zu tun, der insofern auf<br />
Das Floss der Medusa zurückweist, als dieses sowohl den somatischdichten<br />
Raum als auch den Zirkulationsraum in sich aufnimmt, um aus<br />
deren Konflikt seinen eigenen Antagonismus zu gewinnen. Géricaults<br />
Entzweiung der Malerei weist indes nicht nur zurück auf das monumentale<br />
Werk. Die Staubwolke in Eine Gipsbrennerei kündigt zudem<br />
eine ganz andere, neue Möglichkeit der Malerei an, die aus der hier vorgenommenen<br />
Unterscheidung zwischen Nahraum und Zirkulationsraum<br />
hervorgeht und sie zugleich hinter sich lässt. Diese neue Malerei,<br />
die <strong>für</strong> die Moderne genauso wichtig ist wie die beiden Enden der Entzweiung,<br />
zeichnet sich durch eine opake, dichte, eigene materielle Tiefe<br />
aus, die allerdings nicht auf den menschlichen Körper bezogen ist,<br />
sondern jenseits von dessen Reichweite in Erscheinung tritt. Industrielles<br />
Gewölk ist in der Kunst eines Edouard Manet, Camille Pissarro<br />
oder Fernand Léger denn auch nicht einfach ein ikonographisches<br />
Anzeichen von Modernität, es dient vielmehr als Figur einer Kunst, die<br />
sich in den flüchtigen Spuren maschineller Produktion verkörpert, eine<br />
Kunst der Kondensation, die die Gase und Dämpfe in den flüssigen und<br />
sich verfestigenden Zustand des gemalten Bildes überführt. 8 Diese<br />
künftige Malerei aus industrieller Farbe und optischem Flirren, die ich<br />
in der atmosphärischen und zugleich materiell-dichten Erscheinung<br />
von Géricaults Staubwolke erkennen möchte, wird ihrerseits zu monumentalen<br />
Werken führen, die wiederum den körperlichem Nahraum –<br />
und sei es auch nur durch einen Handabdruck – und maschinelle Rotationsbewegungen<br />
aufeinander beziehen. Abb. 9 Von diesem Endpunkt<br />
aus gesehen endet die Geschichte, die von Géricaults Entzweiung des<br />
dramatischen Tableau ausgeht, nicht im Dualismus, sondern mündet<br />
in jene Dialektik, die den Modernismus mit der Kunst der Vergangenheit<br />
verbindet. 9<br />
8 - Vgl. auch T. J. Clark, The Painting of Modern Life. Paris<br />
in the Art of Manet and his Followers (Revised Edition),<br />
Princeton 1999, Preface to the Revised Edition,<br />
S. x–xxx; ders., «Modernism, Postmodernism, and<br />
Steam», in: October, 100, 2002, S. 154–174.<br />
9 - Zu den Zweifeln an dieser Dialektik, wie sie in Jasper<br />
Johns’ Diptychen formuliert wurden, vgl. Wolfram<br />
Pichler / Ralph Ubl, «Enden und Falten. Geschichte der<br />
Malerei als Oberfläche», in: Neue Rundschau, 114, 4,<br />
2002, S. 50–71; zur Fortdauer der modernistischen<br />
Dialektik vgl. Michael Fried, Why Photography Matters<br />
as Art as Never Before, New Haven / London 2008.