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Heft - Institut für Theorie ith

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• S. 64–69 / 72–76 / 77–80<br />

In Übersetzungen treten Texte in Verdopplungen<br />

auf, an denen sich Identität<br />

und Abweichung in besonderer Weise<br />

exemplifizieren lassen. Der alte Streit,<br />

ob bewusst subjektiven Nachdichtungen<br />

oder um Objektivität bemühten Übertragungen<br />

eher zu trauen sei, markiert<br />

die Pole in dieser Debatte. Zsuzsanna<br />

Gahse und Barbara Köhler sind zwei<br />

Autorinnen, die beide auch als Übersetzerinnen<br />

arbeiten. Gahse, als Zehnjährige<br />

aus dem ungarischen Sprachraum<br />

in den deutschen verpflanzt,<br />

begann auf Deutsch zu schreiben, ehe<br />

sie sich auch an Übersetzungen aus dem<br />

Ungarischen wagte. Aber bereits ihr<br />

deutsches Schreiben war grundiert von<br />

einer Poetik der Zweisprachigkeit, mit<br />

der die – zumal wenn der Abstand so<br />

gross ist wie zwischen dem Deutschen<br />

und der nicht dem Indogermanischen<br />

zuzurechnenden Sprache – gar nicht so<br />

triviale Tatsache der Arbitrarität sprachlicher<br />

Zeichen verstärkt ins schriftstellerische<br />

Spiel und Bewusstsein kommt.<br />

Gahse hat darüber immer wieder in<br />

poetologischen Essais reflektiert. Für<br />

das vorliegende <strong>Heft</strong> hat sie das (Er)<br />

Zählen, die unterschiedlichen Weisen,<br />

wie in verschiedenen Sprachen Einund<br />

Mehrzahl, das Einzelne und das<br />

Paar gedacht werden, in den Blick genommen.<br />

Dass ihr dabei Gertrude Stein<br />

in den Sinn kommt, ist kein Zufall. Barbara<br />

Köhler, die in Sachsen aufgewachsene<br />

Lyrikerin, hat biographisch keine<br />

Geschichte der Migration in andere<br />

Sprachräume hinter sich, hat sich aber<br />

als Übersetzerin Texten von Samuel<br />

Beckett und eben Gertrude Stein zugewandt.<br />

Ihre Übertragungen gehen an<br />

Grenzen und können sich dabei sowohl<br />

auf die avancierte Sprachreflexion als<br />

auch auf das experimentell Spielerische<br />

des Originals berufen. Sie streben keine<br />

ausgewogene Lesart an, sondern preschen<br />

vor, indem sie Lektüre-Varianten,<br />

und eben oft genug auch unerwartete<br />

und unwahrscheinliche, herauskitzeln:<br />

Übersetzung als radikale Interpretation.<br />

Steins Buchtitel Tender Buttons<br />

mutiert dann etwa zu Zarte knöpft.<br />

Die Stanzas in Medita tion, aus denen<br />

Köhler eine Auswahl <strong>für</strong> übersetzt<br />

hat, heissen Meditation ins Tanzen.<br />

• S. 154–158<br />

Unter der Überschrift Di≠erenz und /<br />

oder Wiederholung lässt sich auch die<br />

oft erbittert geführte Diskussion um<br />

Fassungen rubrizieren. Heute, da nicht<br />

nur die Philologie längst von der Chimäre<br />

einer zweifelsfrei (re)konstruierbaren,<br />

letztgültigen Gestalt der Werke<br />

abgerückt ist, sondern auch von der<br />

Produzentenseite her Texte häufig als<br />

fluid gedacht und konzipiert werden,<br />

kann das Nebeneinanderstellen von<br />

Varianten als Spielart einer autoreflexiven<br />

Poetik figurieren. So treibt<br />

Christian Steinbacher auf nur wenigen<br />

Seiten ein ungemein dichtes und<br />

verwickeltes Spiel mit Fassungen, in<br />

dem nicht nur mehr als zehn Jahre alte<br />

eigene Gedichte zur Wiedervorlage<br />

kommen. Daneben stehen auch auf<br />

Texte von Kollegen antwortende Ge -<br />

dichte. Aber bildet nicht ohnehin die<br />

gesamte Textumgebung der vom Autor<br />

herangezogenen Bibliothek unterschiedslos<br />

sein Material, bei Steinbacher<br />

noch dezidiert erweitert um den<br />

Sprachschutt des Alltags, an dem er<br />

sich mit seinem hochmusikalischen<br />

lyrischen Sprechen reibt? Intertextualität<br />

ist hier Programm, Teil des poetologischen<br />

Kalküls. Kein Text steht <strong>für</strong><br />

sich. Steinbachers Gedichte sind ein<br />

Beleg <strong>für</strong> Harold Blooms Hinweis, dass<br />

sich in poetischen Texten nur dann<br />

etwas ereignet, wenn sie auf andere antworten.<br />

Seine Poetik ist dabei vor dem<br />

immer mitzudenkenden Hintergrund<br />

der Konventionen eine der Di≠erenz<br />

und der Abweichung, ein Hakenschlagen<br />

zur Vermeidung etwa semantisch<br />

vorhersehbarer Schritte – seine Texte<br />

arbeiten sich gewissermassen an einem<br />

unsichtbaren, fiktiven Bezugstext ab,<br />

von dem sie sich distanzieren.<br />

• S. 126–130 / 131–138<br />

Jürgen Link überraschte 2008 mit<br />

dem Roman Bangemachen gilt nicht<br />

auf der Suche nach der Roten Ruhr-<br />

Armee – kein aus der Eitelkeit eines<br />

Literaturwissenschaftlers geborenes<br />

Nebenwerk, sondern ein Buch, das<br />

einen Platz im Gesamtprojekt eines<br />

«68ers» behauptet, der anders als die<br />

Mehrzahl seiner Generationsgenossen<br />

nicht zum Renegaten wurde. In diesem<br />

Projekt greifen wissenschaftliche, literarische<br />

und praktische politische<br />

Arbeit ineinander. Ein literarisches<br />

Sprechen ganz eigener Art muss Link<br />

entwickeln, weil er seine biographischen<br />

Erfahrungen in einem aktualhistorisch<br />

motivierten Entwurf bergen<br />

will, der nicht in der Kontingenz des<br />

Einzelschicksals versackt. Den Roman<br />

durchzieht ein kollektiver Erzählstrom<br />

– der von der Erfahrung einer Generation<br />

kündet, aber auch von einem<br />

Anspruch. In diesen Erzählstrom sind<br />

immer wieder so genannte Simulationen<br />

(beispielsweise von 1975 auf 1985)<br />

eingeschaltet, prognostische Szenarien,<br />

die drohende Gefahren durchspielen,<br />

aber auch Alternativen pointieren. Dass<br />

einige der bittersten Prognosen, etwa die<br />

Militarisierung der deutschen Aussenpolitik,<br />

mittlerweile als veri fiziert gelten<br />

können, macht die Brisanz von Links<br />

Erzählprojekt aus. Satirisch zugespitzt<br />

werden diese Szenarien in den das<br />

ganze Buch durchziehenden Zwillingsgeschichten,<br />

in der eine politische und<br />

eine unpolitische Schwester ihre Verwirrspiele<br />

treiben – und daran erinnern,<br />

dass es auch vor dem Hintergrund<br />

einer vermeintlichen genetischen<br />

Prädisposition unterschiedliche<br />

Handlungsoptionen gibt. «Vorerinnerung»<br />

– so der Untertitel des Romans,<br />

das programmatische Aushebeln von<br />

Zeitebenen pointierend – meint somit<br />

das Beharren auf Alternativen. Neben<br />

die «eine» Sicht – sei es die o∞zielle<br />

Geschichtsschreibung, seien es die prognostischen<br />

Szenarien des «V-Trägers»<br />

– werden andere gestellt. Die hegemonialen<br />

Interpretationen werden nicht<br />

akzeptiert, in der Fiktion wird die Be -<br />

hauptung zugespitzt, dass alles auch<br />

ganz anders laufen könnte.<br />

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