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Wirtschaftswoche Ausgabe vom 28.07.2014 (Vorschau)

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Der Volkswirt<br />

Der Einzug ihrer Nationalmannschaft<br />

ins WM-<br />

Finale, mit dem die<br />

meisten Argentinier nicht gerechnet<br />

hatten, war eine willkommene<br />

Ablenkung. Nun<br />

muss sich das Land wieder dem<br />

Alltag widmen – und der ist<br />

nicht weniger dramatisch als<br />

das Endspiel im Maracanã-<br />

Stadion: Argentinien steht zwölf<br />

Jahre nach seinem aufsehenerregenden<br />

Zahlungsstopp erneut<br />

am Rande eines Crashs.<br />

Damals hatte das Pampaland<br />

seine Zahlungen auf 100 Milliar-<br />

WELTWIRTSCHAFT den Dollar Auslandsschulden für Argentinien hochriskant –<br />

eingestellt; es war eine der größten<br />

Staatspleiten aller Zeiten. In<br />

Nur Scheinblüten deren Folge strich die Regierung<br />

den Gläubigern in zwei Umschuldungsrunden<br />

70 Prozent<br />

Argentiniens Abstieg von einer reichen Volkswirtschaft<br />

ihrer Anleihenwerte.<br />

zum protektionistischen Chaosstaat zeigt, wohin<br />

Heute ist die Lage ähnlich vertrackt<br />

– doch diesmal für Argen-<br />

Reformverweigerung führen kann.<br />

tinien. Hedgefonds haben das<br />

Land in den USA erfolgreich auf<br />

die vollständige Zurückzahlung<br />

ihrer Kredite verklagt. Sie wollen<br />

sich nicht mit den angebotenen<br />

30 Prozent der Kredite abspeisen<br />

lassen. Argentinien muss<br />

nun für deren Tilgung und die<br />

aufgelaufenen Zinsen vollständig<br />

geradestehen – und kann<br />

erst dann seine anderen Schulden<br />

zurückzahlen.<br />

Stadt der Reichen Die argentinische<br />

Metropole Buenos Aires<br />

Bald pleite? Präsidentin Kirchner<br />

muss Hedgefonds auszahlen<br />

KEINE KREDITE MEHR<br />

Noch lehnt Präsidentin Cristina<br />

Kirchner dies ab. Doch wenn<br />

die viertgrößte Volkswirtschaft<br />

Lateinamerikas ihre Gläubiger<br />

nicht bis zum 31. Juli bezahlt,<br />

ist das Land von den internationalen<br />

Finanzmärkten isoliert.<br />

Pensionsfonds und andere<br />

Großinvestoren dürfen Staaten,<br />

die von den Ratingagenturen<br />

als Zahlungsausfall eingestuft<br />

werden, keine Kredite mehr<br />

geben. Nicht mal mehr von der<br />

Weltbank oder dem Internationalen<br />

Währungsfonds (IWF)<br />

bekäme Argentinien dann<br />

Geld. Es wäre die vierte Zahlungskrise<br />

Argentiniens in drei<br />

Dekaden – und wieder drohen<br />

katastrophale Folgen: Bereits<br />

jetzt steckt das Land in der Stagflation.<br />

Die Wirtschaft dürfte<br />

2014 im besten Falle stagnieren.<br />

Gleichzeitig könnte die Inflationsrate<br />

bis Jahresende auf rund<br />

45 Prozent hochschnellen,<br />

warnt die Investmentbank JP<br />

Morgan. Bei einem Default<br />

droht eine tiefe Rezession wie<br />

2002, als die Wirtschaft infolge<br />

des Zahlungsstopps um 20 Prozent<br />

schrumpfte.<br />

Damit nicht genug: Die Devisenreserven<br />

sind auf 28 Milliarden<br />

Dollar gesunken – vor zwei<br />

Jahren waren es fast doppelt so<br />

viel. Eine leere Devisenkasse ist<br />

ohne Dollar kann die Regierung<br />

keine Medikamente, Lebensmittel<br />

oder Treibstoffe importieren.<br />

Es sieht also schlecht aus für<br />

das Pampaland. Wieder mal.<br />

Wie kein anderes Land erlebt<br />

Argentinien regelmäßig schwere<br />

Krisen – und das schon seit<br />

einem Jahrhundert. Seine historische<br />

Konjunkturkurve gleicht<br />

einem Herzdiagramm. In dessen<br />

Verlauf ist aus Argentinien,<br />

der einstigen Blüte Südamerikas,<br />

ein Krisenstaat geworden,<br />

mit instabilen Institutionen, einer<br />

ineffizienten Wirtschaft und<br />

chaotischen Politik.<br />

Vor einem Jahrhundert installierte<br />

das britische Luxuskaufhaus<br />

Harrods seine erste überseeische<br />

Auslandsfiliale in<br />

Buenos Aires. In der Hauptstadt<br />

fuhr die erste U-Bahn Südamerikas.<br />

Im Teatro Colón sang<br />

Caruso. Die Argentinier waren<br />

reicher als die Franzosen oder<br />

Deutschen. Seitdem geht es<br />

langsam, aber stetig bergab. Es<br />

gäbe vier Arten von Ökonomien<br />

weltweit, sagt der Wirtschafts-<br />

Nobelpreisträger Simon Kuznets:<br />

„Entwickelte und unterentwickelte<br />

Staaten, Japan – und<br />

Argentinien.“ In dieser Sonderrolle<br />

sehen sich die Argentinier<br />

auch selbst:Es gibt wenige Nationen,<br />

die ihren Abstieg so leidenschaftlich,<br />

ja fast genussvoll<br />

analysieren und sezieren – und<br />

denen es dabei noch gelingt,<br />

sich als einzigartig darzustellen.<br />

Argentinier seien Italiener, die<br />

Spanisch sprechen, gerne Engländer<br />

wären und glaubten, in<br />

Paris zu leben, spottete der<br />

Schriftsteller Jorge Luis Borges.<br />

Argentiniens Pleitestatistik<br />

hat handfeste Gründe. Sie zeigt,<br />

dass auch reiche Länder absteigen<br />

können, wenn sie nicht<br />

ständig reformieren und an der<br />

Produktivität ihrer Unternehmen<br />

und Institutionen feilen.<br />

„Wir Argentinier halten uns immer<br />

für cleverer als den Rest der<br />

Welt“, sagt der argentinische<br />

Ökonom Claudio Loser, langjähriger<br />

Direktor des IWF. So mutete<br />

Argentinien bei den zwei Um-<br />

FOTOS: MAURITIUS IMAGES/AGE, REUTERS/ARGENTINE PRESIDENCY<br />

36 Nr. 31 28.7.2014 WirtschaftsWoche<br />

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