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(SILAS) für die minimal invasive Chirurgie - Universität zu Lübeck

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2. Glück als Grundbedürfnis – Glück als Grundrecht?<br />

Es gilt, <strong>die</strong>sen letzten Fragen nach<strong>zu</strong>gehen. Gemäß Sigmund<br />

Freud mag selbst eine Illusion noch sinnvoll sein.<br />

„Für <strong>die</strong> Illusion bleibt charakteristisch <strong>die</strong> Ableitung<br />

aus menschlichen Wünschen, sie nähert sich in <strong>die</strong>ser<br />

Hinsicht der psychiatrischen Wahnidee, aber sie scheidet<br />

sich, abgesehen von dem komplizierten Aufbau der<br />

Wahnidee, auch von <strong>die</strong>ser. An der Wahnidee heben wir<br />

als wesentlich den Widerspruch gegen <strong>die</strong> Wirklichkeit<br />

hervor, während <strong>die</strong> Illusion nicht notwendig falsch, d.h.<br />

unrealisierbar oder im Widerspruch mit der Realität sein<br />

muss“ (8). Tatsächlich ist <strong>die</strong> Suche nach Glück ein Teil<br />

der Realität, und <strong>die</strong>se in ihrer Komplexität <strong>zu</strong> verstehen<br />

ist eine Aufgabe, <strong>die</strong> lösbar erscheint. Sie jedoch unter<br />

den Zeitbedingungen der Postmoderne mit dem Sturm<br />

der Beschleunigung und den anwachsenden „Trümmerhaufen“<br />

als lösbar <strong>zu</strong> erachten, ist eine Aufgabe von <strong>zu</strong>sätzlicher<br />

Komplexität.<br />

Es sind Bedingungen, unter welchen der einzelne Mensch<br />

schnell als überzählig gilt. Überzählig sein zerbricht den<br />

Grundwert des Menschseins, den Ich-Wert. Dessen Sicherheit<br />

<strong>zu</strong> spüren hängt tatsächlich, wie schon erläutert<br />

wurde, seit der frühesten Kindheit von der Art der Beachtung<br />

des Individuums in seinem Glücksbedürfnis ab.<br />

Interessanterweise entwickelte <strong>die</strong> französische Philosophin<br />

Simone Weil, <strong>die</strong> 1943 im Exil in London mit 34<br />

Jahren an den Folgen einer sich über Jahre fortsetzenden<br />

Anorexie starb (9), in ihrem letzten, kurz vor dem Tod<br />

abgeschlossenen Werk „Enracinement“ (10) (dt. „Einwurzelung“)<br />

eine Theorie der Grundbedürfnisse, <strong>die</strong> beachtenswert<br />

ist, gerade hinsichtlich deren Einbe<strong>zu</strong>gs in<br />

<strong>die</strong> psychoanalytischen Erkenntnisprozesse. Gemäß Simone<br />

Weil sind es <strong>die</strong> Grundbedürfnisse, <strong>die</strong> das körperliche<br />

und das psychische Leben jedes Menschen sowohl<br />

als Individuum wie als Teil einer Sozietät mitprägen. In<br />

der Befriedigung der Grundbedürfnisse sind <strong>die</strong> Menschen<br />

in wechselseitiger Abhängigkeit von einander; <strong>die</strong><br />

Art und der Wert deren Beachtung beeinflusst <strong>zu</strong>gleich<br />

den seelischen Zustand des einzelnen Menschen wie<br />

jede private Beziehung und jedes soziale Empfinden.<br />

Es ist <strong>die</strong> Nichterfüllung der Grundbedürfnisse, <strong>die</strong><br />

gemäß Simone Weil immer Hungererscheinungen bewirkt,<br />

ob es sich um Hunger nach emotionaler, nach körperlicher<br />

oder nach geistiger resp. intellektueller Nahrung<br />

handle. Die Verbindung des einen mit dem anderen<br />

äußert sich im psychischen Hunger<strong>zu</strong>stand, der tödlich<br />

sein kann. Dabei ist das Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit<br />

der eigenen Existenz und nach guter Integration im sozialen<br />

Umfeld, nach liebevoller Zuwendung und Sicherheit<br />

ebenso prioritär wie dasjenige nach körperlicher<br />

Ernährung und nach einem Dach über dem Kopf, und<br />

<strong>die</strong>ses wiederum ebenso unverzichtbar wie jenes nach<br />

Freiheit und nach Würde, nach einer <strong>zu</strong>stimmungsfähigen<br />

Ordnung menschlichen Zusammenlebens ohne<br />

Diskriminierung und ohne Marginalisierung. Das Bedürfnis<br />

nach Glück nennt Simone Weil nicht. Es ist in<br />

alle Grundbedürfnisse miteinbezogen, resp. es besteht<br />

in deren Verbindung.<br />

Den vielfachen Hunger<strong>zu</strong>stand, der durch mangelnde<br />

Erfüllung der Grundbedürfnisse, durch Diskriminierung<br />

und Marginalisierung bewirkt wird, kannte Simone<br />

Weil durch ihre nahen Beobachtungen der politischen<br />

und sozialen Zustände in den Zwanzigerjahren bei der<br />

durch den Ersten Weltkrieg ausgebluteten Bevölkerung<br />

Frankreichs wie in den Dreißigerjahren bei der arbeitslosen<br />

oder industriell ausgebeuteten Arbeiterschaft,<br />

ebenso bei der <strong>zu</strong>nehmend entrechteten und bedrohten<br />

jüdischen Bevölkerung, <strong>zu</strong> welcher sie gehörte. Sie<br />

hatte den Philosophieunterricht aufgegeben und sich<br />

um Fabrikarbeit bemüht, sie hatte sich 1936 nach Spanien<br />

begeben und <strong>die</strong> durch den Bürgerkrieg bewirkte<br />

menschliche und politische Katastrophe kennen gelernt.<br />

Ebenso hatte sie eine persönliche Auseinanderset<strong>zu</strong>ng<br />

mit den von Gewalt und Angst geladenen Spannungen<br />

in Deutschland gewagt, als sie im Dezember 1932 nach<br />

Berlin fuhr, um kurz vor Hitlers Machtübernahme deren<br />

Ausmaß <strong>zu</strong> klären.<br />

Was Simone Weil in „Enracinement“ ausführt, ist ein<br />

Entwurf <strong>zu</strong>r Korrektur des menschlichen „décracinement“<br />

resp. der „Entwurzelung“, <strong>die</strong> sie als Folge der<br />

vielfach unerfüllten Grundbedürfnisse der Menschen erachtet.<br />

Die Tatsache, dass Grundbedürfnisse mit Grundrechten<br />

einhergehen, hängt gemäß ihren Überlegungen<br />

von einer Zwischenverbindung ab, gewissermaßen von<br />

einer zwischenmenschlichen Synapse, durch welche<br />

eine Realisierung gesichert werden kann. Von maßgeblicher<br />

Bedeutung ist <strong>für</strong> Simone Weil, dass <strong>die</strong> gleiche<br />

menschliche Bedürftigkeit als Grundlage <strong>für</strong> <strong>die</strong> gleiche<br />

Verbindlichkeit (fr. „obligation“) gilt, auf <strong>die</strong> Bedürfnisse<br />

anderer Menschen <strong>zu</strong> achten. Auf der Reziprozität<br />

der Verbindlichkeit gegenüber den Grundbedürfnissen<br />

beruht <strong>die</strong> Reziprozität der Grundrechte, vorausgesetzt,<br />

<strong>die</strong> Verbindlichkeit wird ernstgenommen. „La notion<br />

d’obligation prime celle de droit qui lui est subordonnée<br />

et relative” (11). Dabei erscheint mir wichtig, auf<br />

<strong>die</strong> Bedeutung des lat. „ligare – binden“ in „obligation“<br />

(lat. „obligare“) hin<strong>zu</strong>weisen, das sich auch in<br />

„religion“ (lat. „religare“) findet: analog <strong>zu</strong>r gleichen<br />

Verbindung aller Menschen resp. des Menschseins <strong>zu</strong>m<br />

Göttlichen besteht <strong>die</strong> Verbindung zwischen Mensch<br />

und Mensch im Menschsein. Doch während Religion im<br />

Verständnis Simone Weils allein der Aufmerksamkeit –<br />

FOCUS MUL 24, Heft 2 (2007) 119

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