<strong>Trans*</strong> <strong>Mens<strong>ch</strong>en</strong> <strong>und</strong> <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>effektiv <strong>und</strong> effizient zu unterstützen, so dass diese si<strong>ch</strong> wieder wohl fühlen <strong>und</strong> in dieGesells<strong>ch</strong>aft integriert leben können, meint Gebauer (1975) zu dem Spannungsfeld zwis<strong>ch</strong>enPsy<strong>ch</strong>iatrie <strong>und</strong> psy<strong>ch</strong>osozial beeinträ<strong>ch</strong>tigten <strong>Mens<strong>ch</strong>en</strong>, zu denen offenbar na<strong>ch</strong> Ansi<strong>ch</strong>tder Gesells<strong>ch</strong>aft au<strong>ch</strong> trans* <strong>Mens<strong>ch</strong>en</strong> gehören (vgl. S. 114). Meist definieren primär Laien,das heisst Personen ohne psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>es Fa<strong>ch</strong>wissen, den psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en Zustand derspäteren Klientel von Psy<strong>ch</strong>iatern aufgr<strong>und</strong> von Kleidungsgewohnheiten, Umgangsformen<strong>und</strong> anderen Verhaltensweisen, die erkennen lassen, ob jemand si<strong>ch</strong> in einer bestimmtenSituation angemessen verhält oder ni<strong>ch</strong>t, wie es au<strong>ch</strong> bei trans* <strong>Mens<strong>ch</strong>en</strong> immer wiederdeutli<strong>ch</strong> ersi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> wird. Diese erste Selektion über psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Ges<strong>und</strong>heit erfolgt also meistzuerst über kulturelle, situationsbedingte <strong>und</strong> soziale Kriterien. Dieses willkürli<strong>ch</strong>e <strong>und</strong>zufällige Selektionsverfahren wird jedo<strong>ch</strong> von Psy<strong>ch</strong>iatern oft ni<strong>ch</strong>t berücksi<strong>ch</strong>tigt. Unteranderem aufgr<strong>und</strong> dieses unreflektierten Ablaufs erfüllen Psy<strong>ch</strong>iatrie, Polizei, Justiz <strong>und</strong>au<strong>ch</strong> <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong> als Instanzen die Funktionen sozialer Kontrolle (vgl. Gebauer, 1975, S.114 – 115). Psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>e Institutionen mit ihrem totalitären Kontroll<strong>ch</strong>arakter üben bei<strong>Mens<strong>ch</strong>en</strong>, die psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>e ‚Hilfe‘ in Anspru<strong>ch</strong> nahmen oder nehmen mussten, also au<strong>ch</strong>bei trans* <strong>Mens<strong>ch</strong>en</strong>, eine Stigmatisierung aus, die no<strong>ch</strong> lange na<strong>ch</strong> den Zeitpunkt derEntlassung aus der Psy<strong>ch</strong>iatrie na<strong>ch</strong>wirkt. Diese Stigmatisierungs-Spätfolgen wirken auftrans* <strong>Mens<strong>ch</strong>en</strong> statusdegradierend <strong>und</strong> zeigen si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> zerstörende Me<strong>ch</strong>anismen in derIdentität (vgl. Gebauer, 1975, S. 117 – 118). Wenn psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Beeinträ<strong>ch</strong>tigungen als Folgevon gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en, sozialen Stigmatisierungsprozessen betra<strong>ch</strong>tet werden, erfolgt einedoppelt negative Identitätsentwicklung. Einerseits dur<strong>ch</strong>läuft ein Mens<strong>ch</strong> aus Si<strong>ch</strong>t diesesStigmatisierungskonzepts eine Rückstufung der sozialen Identität dur<strong>ch</strong> eine Abwertung dessozialen Ansehens, andererseits erfolgt eine individuelle <strong>und</strong> subjektive Reaktion auf dieseRückstufung, die si<strong>ch</strong> negativ auf die Selbsteins<strong>ch</strong>ätzung auswirkt (vgl. Gebauer, 1975, S.113 – 114). Böhnis<strong>ch</strong> (2010) bes<strong>ch</strong>reibt ein ‚Mithalte-Tabu‘, das si<strong>ch</strong> dadur<strong>ch</strong> auszei<strong>ch</strong>net,dass in der neokapitalistis<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft, die von ökonomis<strong>ch</strong>-te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>er Ma<strong>ch</strong>barkeit<strong>und</strong> Konkurrenzfähigkeit bestimmt ist <strong>und</strong> Selbstverantwortung <strong>und</strong> Selbstorganisation desEinzelnen voraussetzt, so also au<strong>ch</strong> von trans* <strong>Mens<strong>ch</strong>en</strong>. Unter diesen Voraussetzungengelten psy<strong>ch</strong>osoziale Probleme s<strong>ch</strong>nell als Störfaktoren, als Indizien des ‚Ni<strong>ch</strong>t-Mithalten-Könnens‘ <strong>und</strong> Konflikte werden aufgr<strong>und</strong> dessen ni<strong>ch</strong>t thematisiert, sondern na<strong>ch</strong> innen indie Person verlagert oder na<strong>ch</strong> aussen abgespalten. Das von der Gesells<strong>ch</strong>aft alsabwei<strong>ch</strong>end empf<strong>und</strong>ene Verhalten, also au<strong>ch</strong> das Verhalten von trans* <strong>Mens<strong>ch</strong>en</strong>, dient beider Mehrheit der konformen Bevölkerung oft als Projektionsflä<strong>ch</strong>e für soziale Unsi<strong>ch</strong>erheit<strong>und</strong> Angst, was in sozialer Kontrolle enden kann (vgl. S. 19).Gr<strong>und</strong>sätzli<strong>ch</strong> werden also primär von der Gesells<strong>ch</strong>aft ni<strong>ch</strong>t erwüns<strong>ch</strong>te psy<strong>ch</strong>osozialeVerhaltensweisen in die Obhut der Psy<strong>ch</strong>iatrie delegiert; dort erfolgt eine – dem LabelingApproa<strong>ch</strong> ähnli<strong>ch</strong>e – Pathologisierung dieser Verhaltensweisen. Dur<strong>ch</strong> die Delegation derBa<strong>ch</strong>elorarbeit Jack Walker, WS08 Seite 15
<strong>Trans*</strong> <strong>Mens<strong>ch</strong>en</strong> <strong>und</strong> <strong>Soziale</strong> <strong>Arbeit</strong>unerwüns<strong>ch</strong>ten Verhaltensweisen an die Psy<strong>ch</strong>iatrie erfahren <strong>Mens<strong>ch</strong>en</strong>, die dieseVerhaltensweisen aufzeigen, einen ‚ges<strong>ch</strong>ützten Rahmen‘ dur<strong>ch</strong> die Psy<strong>ch</strong>iatrie. Diesen‚ges<strong>ch</strong>ützten Rahmen‘ bezahlen jedo<strong>ch</strong> <strong>Mens<strong>ch</strong>en</strong> mit von der Gesells<strong>ch</strong>aft ni<strong>ch</strong>terwüns<strong>ch</strong>ten Verhaltensweisen mit einer enormen Pathologisierung sowie einer darausresultierenden Stigmatisierung. Das ambivalente Spannungsfeld der Psy<strong>ch</strong>iatrie <strong>und</strong> derGesamtgesells<strong>ch</strong>aft s<strong>ch</strong>eint aus den Komponenten S<strong>ch</strong>utz vs. Pathologisierung zu bestehen.Dur<strong>ch</strong> die Delegation von Verhaltensweisen von <strong>Mens<strong>ch</strong>en</strong>, die eine Gesells<strong>ch</strong>aft alsÜberforderung erlebt, an die Psy<strong>ch</strong>iatrie, konstruiert die Gesells<strong>ch</strong>aft ein Modell, in demIndividuen pathologisiert <strong>und</strong> stigmatisiert werden <strong>und</strong> kommt dadur<strong>ch</strong> sehr stark inVersu<strong>ch</strong>ung, ihre Aufgabe der strukturellen Inklusion aller in ihr lebenden <strong>Mens<strong>ch</strong>en</strong> ausdem Blickfeld zu verlieren. Klassifikationssysteme selbst sowie ihre Inhalte stellen also ni<strong>ch</strong>tstatis<strong>ch</strong>e, unveränderbare Grössen dar, sondern werden von den Definitionsmä<strong>ch</strong>tigen einerGesells<strong>ch</strong>aft hergestellt <strong>und</strong> fortlaufend dynamis<strong>ch</strong> verändert. Darüber hinaus zeigt die letzteAussage des trans* <strong>Mens<strong>ch</strong>en</strong> behandelnden Psy<strong>ch</strong>iaters au<strong>ch</strong> auf, dass si<strong>ch</strong> bei Vertreternder psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>en Medizin je länger je mehr das Bewusstsein nieders<strong>ch</strong>lägt, dass si<strong>ch</strong> dieklinis<strong>ch</strong>e Definition von <strong>Trans*</strong> in einem momentanen Wandlungsprozess – initiiert vontrans* Betroffenen selbst <strong>und</strong> sie unterstützenden Fa<strong>ch</strong>personen, ab <strong>und</strong> zu sogarPsy<strong>ch</strong>iatern! – befindet. Zudem wird au<strong>ch</strong> eine sehr reflektierte Haltung allgemein gegenüberder Psy<strong>ch</strong>iatrie spürbar.Als Alternative zu den klinis<strong>ch</strong>en Definitionen existieren zur Begleitung von trans* <strong>Mens<strong>ch</strong>en</strong>seit 2011 Guidelines des Sozialpsy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>en Dienstes des Kantons Uri, S<strong>ch</strong>weiz.Verfasser der Guidelines, die au<strong>ch</strong> unter der Bezei<strong>ch</strong>nung ‚Altdorfer Empfehlungen‘ bekanntsind, ist Dr. med. univ. Dr. phil. Horst-Jörg Haupt (Haupt, 2011). Im Geleitwort der AltdorferEmpfehlungen s<strong>ch</strong>reibt Prof. Dr. rer. nat. Dipl. – Psy<strong>ch</strong>. Udo Rau<strong>ch</strong>fleis<strong>ch</strong>: „Es sindGuidelines in Form von Empfehlungen, die mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tskonform sind <strong>und</strong> denmedizinis<strong>ch</strong>en State of the Art repräsentieren. Sie stellen damit international ein absolutesNovum dar, gehen die international gebräu<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Ri<strong>ch</strong>tlinien do<strong>ch</strong> alle von einemPathologiekonzept aus <strong>und</strong> stellen damit gemäss der Kritik des Europäis<strong>ch</strong>en<strong>Mens<strong>ch</strong>en</strong>re<strong>ch</strong>tskommissars eine Verletzung der <strong>Mens<strong>ch</strong>en</strong>re<strong>ch</strong>te dar. Bei der Formulierungder ‚Altdorfer Empfehlungen‘ geht es Dr. Haupt darum, die Erkenntnisse der modernenPsy<strong>ch</strong>osozialen Medizin <strong>und</strong> der Ges<strong>und</strong>heitswissens<strong>ch</strong>aften sowie derNeurowissens<strong>ch</strong>aften zu nutzen, beim Entfaltungsprozess von transsexuellen <strong>Mens<strong>ch</strong>en</strong> dieRisiken zu minimieren <strong>und</strong> dur<strong>ch</strong> die Aktivierung von Ressourcen <strong>und</strong>Ges<strong>und</strong>heitspotentialen den Entfaltungsprozess optimal zu unterstützen“ (S. II).Vor den Entstehungshintergründen der Psy<strong>ch</strong>iatrie <strong>und</strong> den medizinis<strong>ch</strong>enKlassifizierungssystemen wird nun <strong>Trans*</strong> in den nä<strong>ch</strong>sten beiden Unterkapiteln in denBa<strong>ch</strong>elorarbeit Jack Walker, WS08 Seite 16