Schauplätze der Umweltgeschichte - Werkstattbericht - SUB Göttingen
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Anton Reiser<br />
nun immer einen beson<strong>der</strong>n Reiz darin, Gegenden von <strong>der</strong> Stadt aufzusuchen, wo<br />
er noch gar nicht gewesen war. Seine Seele erweiterte sich dann immer, es war ihm,<br />
als ob er aus dem engen Kreise seines Daseins einen Sprung gewagt hätte; die alltäglichen<br />
Ideen verloren sich, und große angenehme Aussichten, Labyrinthe <strong>der</strong><br />
Zukunft eröffneten sich vor ihm.“ (AR 93)<br />
Geschil<strong>der</strong>t wird nicht, was <strong>der</strong> Protagonist bei seinen Stadtwan<strong>der</strong>ungen an Sinneseindrücken<br />
empfand, son<strong>der</strong>n vorrangig, welche Bedeutung sie für seine Seelenverfassung<br />
hatten. Damit findet hier im Gegensatz zu <strong>der</strong> vorhergehenden<br />
Schil<strong>der</strong>ung eine Verknüpfung bestimmter Gegenden <strong>der</strong> Stadt mit Vorstellungen<br />
und Wünschen Reisers statt. Die Voraussetzung dafür dürfte vor allem das bewusste<br />
Heraustreten aus dem (Arbeits-)Alltag gewesen sein.<br />
Ritter (1974, 146 f.) beschreibt ein ähnliches Phänomen in seinem Aufsatz über<br />
„Landschaft“. Demnach wird die Außenwelt erst dann ästhetisch wahrgenommen,<br />
wenn sie nicht mehr zum unmittelbaren Arbeitsumfeld des Betrachters gehört. Als<br />
Beispiel führt er den Landmann an, dessen Blick auf seine Fel<strong>der</strong> nicht ästhetisch<br />
„verklärt“ ist. Eine Grundvoraussetzung für eine ästhetische Wahrnehmung <strong>der</strong><br />
naturräumlichen Umwelt ist laut Ritter das „Hinausgehen“ in die vermeintlich freie<br />
Natur. Und dieses Hinausgehen muss seinen Zweck in sich selbst haben, es muss<br />
um seiner selbst willen geschehen und frei von praktischen Zwängen und Erwägungen<br />
sein. 5 Das ist bei <strong>der</strong> Wahrnehmung <strong>der</strong> Oker nicht <strong>der</strong> Fall.<br />
Zentral bei dieser Ästhetisierung <strong>der</strong> Umwelt ist auch <strong>der</strong> Betrachter selbst. So<br />
heißt es bei Ritter (1974, 150): „Landschaft ist Natur, die im Anblick für einen<br />
fühlenden und empfindenden Betrachter ästhetisch gegenwärtig ist […].“ Nach<br />
wie vor ist für den Zusammenhang auch die Replik von Groh/Groh einschlägig.<br />
Sie betrachten ästhetische Naturerfahrung als ein „historisch entstandenes Phänomen“,<br />
das „immer durch Ideen, durch Vorstellungen präformiert“ (Groh/Groh<br />
1996, 93 u. 95) sei. Beispiele dafür lassen sich mehrfach im Roman finden.<br />
2.2 Wallspaziergänge als Form <strong>der</strong> inneren und äußeren Distanzierung<br />
Nachdem Anton Reiser die Hutmacherlehre in Braunschweig abgebrochen hat,<br />
kehrt er wie<strong>der</strong> nach Hannover zurück, um dort, durch Stipendien und Freitische<br />
finanziert, auf eine Schule gehen zu können. Hier wie<strong>der</strong>um verzichtet Anton Reiser<br />
auf seine innerstädtischen Streifzüge und verlegt sich zunächst darauf, die Stadt<br />
auf dem Stadtwall zu umrunden. Die Grenze zwischen Stadt und umliegendem<br />
5 Das sind ungefähr auch die gleichen Vorstellungen, die bei <strong>der</strong> Formulierung <strong>der</strong> Autonomieästhetik<br />
von Kunst um 1800 – ganz maßgeblich von Karl Philipp Moritz – formuliert wurden. Kunst solle<br />
nur aus sich selbst heraus entstehen und nicht dem Lob einer Autorität dienen. Die verschiedenen<br />
Diskussionsstränge, die zu <strong>der</strong>lei Positionen führten an dieser Stelle darzulegen, würde den Rahmen<br />
sprengen.<br />
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