Schauplätze der Umweltgeschichte - Werkstattbericht - SUB Göttingen
Schauplätze der Umweltgeschichte - Werkstattbericht - SUB Göttingen
Schauplätze der Umweltgeschichte - Werkstattbericht - SUB Göttingen
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
170<br />
Urte Stobbe<br />
werden auch hier wie<strong>der</strong> keine Sinneseindrücke, son<strong>der</strong>n ein nahezu vollständig<br />
kulturell überformtes Landschaftsbild. Es ist letztlich das literarische Verfahren <strong>der</strong><br />
Verfremdung, dass Moritz hier insbeson<strong>der</strong>e bei <strong>der</strong> Schil<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> naturräumlichen<br />
Umwelt anwendet, er transformiert die einzelnen Elemente <strong>der</strong> naturräumlichen<br />
Umwelt zu einer idealen „Natur“.<br />
Gebrochen wird dies durch die übergeordnete Erzählinstanz, den auktorialen Erzähler,<br />
<strong>der</strong> Reiser rückblickend ein fehlendes Verständnis für das Zustandekommen<br />
bestimmter Empfindungen attestiert: „Auch konnte er [Anton Reiser, d.<br />
Verf.] damals nicht begreifen, warum die einzelnen auf <strong>der</strong> Wiese hin und her zerstreuten<br />
hohen Bäume mit ihrem Schatten in <strong>der</strong> Mittagssonne einen so wun<strong>der</strong>baren<br />
Eindruck auf ihn machten – er fiel nicht darauf, daß eben <strong>der</strong> einsame Stand<br />
<strong>der</strong>selben in großen und unregelmäßigen Zwischenräumen, <strong>der</strong> Gegend das majestätische<br />
feierliche Ansehn gab, wodurch sein Herz immer so gerührt wurde.“ (AR 291,<br />
Hervorh. im Original)<br />
Der reifer gewordene Erzähler stellt also in <strong>der</strong> Retrospektive fest, dass sich die<br />
Befindlichkeiten <strong>der</strong> Seele in <strong>der</strong> Außenwelt zu spiegeln vermögen – o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s<br />
gewendet, dass <strong>der</strong> Mensch Korrespondenzen zwischen <strong>der</strong> inneren Verfassung<br />
und <strong>der</strong> Außenwelt herstellen kann und diese sogar in <strong>der</strong> naturräumlichen Umgebung<br />
bewusst sucht: „Diese einsamen Bäume machten ihm seine eigne Einsamkeit,<br />
indem er unter ihnen umherwandelte, gleichsam heilig und ehrwürdig – sooft er<br />
unter diesen Bäumen ging, lenkten sich seine Gedanken auf erhabene Gegenstände,<br />
seine Schritte wurden langsamer, sein Haupt gesenkt, und sein ganzes Wesen<br />
ernster und feierlicher […].“ (AR 291) Die Schil<strong>der</strong>ung kreist um Einsamkeit und<br />
den Eindruck feierlicher Stille – sowohl in <strong>der</strong> Außen- als auch in <strong>der</strong> Innenwelt<br />
des Protagonisten. Die physische Bewegung wird dabei mit einer inneren Bewegtheit<br />
verschmolzen – wie<strong>der</strong>um ein Gedanke, <strong>der</strong> sich in ähnlicher Form in <strong>der</strong><br />
zeitgenössischen Debatte über das Spazierengehen und die neuesten Gartenkunstvorstellungen<br />
finden lässt. 8<br />
Festzuhalten ist, dass in diesem Beispiel die gesamte Wahrnehmung des „angenehmen<br />
Waldes“ aus unterschiedlichen Diskursen zusammengesetzt ist, die parallel<br />
dazu in Bil<strong>der</strong>n, Gartenbeschreibungen, Guckkästen und literarischen Texten<br />
transportiert worden sind. Diese ohnehin schon kulturell überformten Wahrnehmungsweisen<br />
werden zudem noch einmal aus <strong>der</strong> Retrospektive seitens des Erzählers<br />
um Erklärungen und Reflexionen etwa zur Wirkung von allein stehenden<br />
Bäumen ergänzt. Erst durch dieses literarische Kaleidoskop relativ variabler Wahrnehmungs-<br />
und Deutungsweisen wird die außerstädtische Umwelt in eine ideale<br />
„Natur“ transformiert.<br />
8 Parshall (2003) hat am Beispiel von Hirschfelds Theorie <strong>der</strong> Gartenkunst dargelegt, dass dieses Sichbewegen<br />
und innerlich Bewegt-werden im Garten miteinan<strong>der</strong> in Einklang gebracht werden sollte.<br />
Auf den zeitgenössischen Diskurs des Spaziergangs siehe König (1996).