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SOCIETY 354 /2010

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POLITIK<br />

KOMMENTAR<br />

Gastkommentar von ORF-Journalistin Susanne Scholl<br />

Stalins böses Erbe<br />

Chaos in Kirgistan: Das öffentliche Gedächtnis ist kurz. Schon in den 1990er Jahren kam es<br />

im Fergana-Tal zu blutigen ethnischen Unruhen. Denn dieses sowjetische Zentralasien war<br />

nie so ruhig, wie es uns immer scheinen sollte.<br />

Das "Weiße Haus" - Regierungsgebäude<br />

in Bischkek<br />

Die Machthaber im fernen sowjetischen<br />

Moskau hatten die Grundlagen für alle<br />

Arten von Konflikten gelegt, indem<br />

sie die Grenzen in der Region willkürlich zogen.<br />

Der Konfliktstoff im Dreiländereck<br />

zwischen Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan<br />

ging deshalb nie aus. Solange die Sowjetmacht<br />

alle gleichermaßen unterdrükkte,<br />

blieb es relativ ruhig in der Region.<br />

Kaum aber hatte Gorbatschow Glasnost<br />

und Perestroika ausgerufen gingen Kirgisen,<br />

Usbeken und Tadschiken auf einander<br />

los. Die kleine russische Minderheit löste<br />

das Problem für sich, indem sie die Region<br />

verließ. So wie sie Tadschikistan bald verlassen<br />

sollte, auf der Flucht vor den blutigen<br />

Clankämpfen, die dort ausbrachen.<br />

***<br />

Bakiews Aufstieg und Sturz<br />

Bis vor fünf Jahren herrschte dann wieder<br />

– mehr oder weniger erzwungene – Ruhe.<br />

Bis der Herr des Südens, Kurmanbek<br />

Bakiew, seine Banden nach Bischkek führte,<br />

um den dort durchaus autoritär herrschenden<br />

Askar Akajew zu stürzen. Wieder<br />

einmal gab es eine der viel zitierten „Revolutionen“<br />

gegen einen alteingesessenen<br />

Lokalfürsten – und wieder einmal lobte die<br />

Welt die so genannten Revolutionäre. Bakiew<br />

bekam vor allem Unterstützung, weil<br />

er bereit war, einen amerikanischen Stützpunkt<br />

auf kirgisischem Territorium zu<br />

dulden. Dass er bis ins Mark korrupt war,<br />

das Land schneller in den Ruin trieb, als<br />

das sein Vorgänger Akajew und dessen<br />

Mitstreiter je gekonnt hätten, spielte da<br />

keine Rolle. Nach außen hin jedenfalls<br />

nicht. Intern wuchsen die Wut und die Verzweiflung<br />

– die schließlich vor wenigen<br />

Monaten zu Bakiews Sturz führten.<br />

Die Chefin der Übergangsregierung Rosa<br />

Otunbaewa wurde im Westen sofort als<br />

„russlandfreundlich“ gebrandmarkt – weil<br />

niemand es für nötig fand, sich daran zu erinnern,<br />

dass sie seinerzeit Bakiew gegen<br />

Akaew unterstützt, sich dann aber angesichts<br />

dessen Machtmissbrauch von diesem<br />

ÜBER DIE AUTORIN<br />

Dr. Susanne Scholl ist am<br />

19.9.1949 in Wien geboren. Sie<br />

studierte Slawistik, war ab<br />

den 1970er Jahren bei „Le<br />

Monde“, Radio Österreich<br />

International und in der<br />

Austria Presseagentur (APA)<br />

tätig. Seit 1985 arbeitet sie für<br />

den ORF: Als Redakteurin der Osteuroparedaktion, Korrespondentin<br />

in Bonn und Leiterin des ORF-Europajournals.<br />

Seit 2000 ist Leiterin des ORF-Büros in Moskau. Zahlreiche<br />

Publikation (u. a. „Russisches Tagebuch“ u. „Töchter des<br />

Krieges“) sowie Auszeichnungen (u. a. Österr. Ehrenkreuz<br />

f. Wissenschaft und Kunst 2003, Journalist des Jahres<br />

2009). Susanne Scholl ist Mutter zweier Kinder.<br />

abgewandt hatte. Bakiew – und vor allem<br />

sein im Süden des Landes rund um Jalalabad<br />

und Osch fest verankerter und ziemlich<br />

krimineller Clan – sind aber nicht gewillt,<br />

sich so einfach davonjagen zu lassen.<br />

Sie haben die jüngsten ethnischen Zusammenstöße<br />

im Süden gezielt geschürt<br />

und angeheizt – um das Land zu destabilisieren<br />

und die Übergangsregierung zum<br />

Aufgeben zu zwingen. Die Folge – Hunderte<br />

Tote und Zehntausende Flüchtlinge, die<br />

ethnische Usbeken sind – und im Nachbarland<br />

Usbekistan trotzdem nicht gerade<br />

mit offenen Armen aufgenommen werden,<br />

weil man befürchtet, durch sie den<br />

Konflikt beim Nachbarn direkt ins Haus<br />

geliefert zu bekommen.<br />

***<br />

Fragwürdige Rolle Moskaus<br />

Rosa Otunbaewa, die angeblich so Moskautreue,<br />

hat tatsächlich Russland um<br />

Beistand gebeten, als die Lage außer Kontrolle<br />

geriet. Moskau aber ziert sich. Mag<br />

sein, dass man sich angesichts der heiklen<br />

Gemengelage in der Region nicht exponieren<br />

will. Dass man aber lediglich Soldaten<br />

schickte, um den eigenen russischen Stützpunkt,<br />

den es in Kirgistan auch nach wie<br />

vor gibt, zu schützen stimmt doch etwas<br />

nachdenklich. Denn eigentlich wäre nur<br />

der große russische Nachbar in der Lage,<br />

die Situation militärisch unter Kontrolle<br />

zu bringen. Dass er es nicht tut, dürfte viele<br />

Gründe haben – darunter auch die Notwendigkeit<br />

zunächst zu klären, was die<br />

Nachbarn Usbekistan und Kasachstan von<br />

einer solchen Intervention halten würden.<br />

Vor allem aber scheint man sich in Moskau<br />

noch nicht entschieden zu haben,<br />

wessen Partei man in diesem Konflikt ergreifen<br />

soll– und das dürfte der Hauptgrund<br />

für Moskaus zögern sein. Dass inzwischen<br />

weiter Hunderte sterben oder in<br />

die Flucht getrieben werden, stört offenbar<br />

niemanden – sieht man einmal von der zunehmend<br />

verzweifelten Übergangsregierungschefin<br />

Rosa Otunbaewa ab, die ihrem<br />

Land eigentlich nur etwas Demokratie<br />

und die Befreiung von der alles durchdringenden<br />

Korruption bringen wollte.<br />

<strong>SOCIETY</strong> 2_10 | 61

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