Procycling 02.19
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SAN REMO<br />
© Getty Images<br />
BEI DIESEM RENNEN,<br />
WIE FREIRE UND ZABEL<br />
VERAN SCHAULICHTEN,<br />
IST WIRTSCHAFTLICHKEIT<br />
EIN EBENSO WERTVOLLES<br />
GUT WIE TALENT.<br />
de, ohne dass Cavendish einen zweiten Klauenabdruck<br />
hinterlassen würde. Er weiß nicht genau,<br />
warum es keine Wiederholung und keine Dynastie<br />
gab wie die, die Erik Zabel, der ihn 2009 vom<br />
Highroad-Mannschaftswagen aus führte, in den<br />
späten 1990ern aufbauen konnte. „Ich dachte<br />
definitiv, dass ich es nach 2009 noch einmal gewinnen<br />
würde. Es hätte ein paar Mal nicht viel<br />
gefehlt, aber aus unterschiedlichen Gründen hat<br />
es nicht geklappt …“<br />
Darin sehen wir einen weiteren Widerspruch<br />
der Classicissima – dass auf jeden Merckx oder<br />
Zabel oder Freire, der eine funktionierende Formel<br />
entwickelte, ein großer Fahrer kommt, der den<br />
Code nicht knacken konnte. Michele Bartoli versuchte<br />
es ein paar Jahre am Poggio, ein paar Jahre<br />
an der Cipressa. Er kam in Massensprints in die<br />
Top Five, doch er beendete seine Karriere mit einem<br />
San-Remo-förmigen Loch in seinem ansonsten<br />
makellosen Klassikerjäger-Palmarès. Tom<br />
Boonen erging es ähnlich. In der heutigen Generation<br />
ist Peter Sagan das beste Beispiel für einen<br />
Athleten mit allen erforderlichen Qualitäten, aber<br />
bisher keinem Siegerstrauß – vielleicht, weil der<br />
Slowake noch nicht ganz begriffen hat, dass bei<br />
diesem Rennen, wie Cavendish uns sagte und<br />
Freire und Zabel veranschaulichten, Wirtschaftlichkeit<br />
ein ebenso wertvolles Gut ist wie Talent.<br />
Während es für einen Fahrer eine Karriere definieren<br />
kann, schätzt das normale Volk von San<br />
Remo sein Rennen als eine der Konstanten des Lebens<br />
und das zweitwichtigste Ereignis des Jahres<br />
nach dem Musikfestival im Februar – in Wirklichkeit<br />
nur ein kitschiger Song-Wettbewerb. Letzterer<br />
ist auch das Einzige, was die meisten Radsportler,<br />
außer vielleicht die Italiener, mit San Remo verbinden.<br />
Bei Cavendish ist es nicht anders. „Da gibt es<br />
doch dieses Musikfestival, oder? Nach dem Rennen<br />
packen wir unsere Sachen und reisen ab. Ich<br />
habe dort einmal nach dem Rennen zu Abend gegessen,<br />
und es war nicht besonders gut. Das war<br />
buchstäblich das einzige Mal, dass ich überhaupt<br />
ein paar Stunden dort verbracht habe.“<br />
Wie viele Hafenstädte zwischen der französischen<br />
Grenze und Genua, wird die Stadt selbst oft<br />
als „verblichen“ bezeichnet – wobei viele Besucher<br />
immer noch die „gut situierte Kolonie der nouvelle<br />
richesse“ erkennen würden, die in Guido Piovenes<br />
berühmtem Reisetagebuch Viaggio in Italia vor<br />
einem halben Jahrhundert beschrieben wurde.<br />
Konkurrenz insbesondere aus den Niederlanden<br />
mag den Blumenanbau beeinträchtigt haben, dem<br />
San Remo den stolzen Beinamen „Stadt der Blumen”<br />
verdankt, aber die großen Gewächshäuser,<br />
die wie gigantische Klaviertasten auf den terrassierten<br />
Hängen des Poggio liegen, sorgen immer<br />
noch für einen unverwechselbaren Hintergrund.<br />
Unterdessen wurde die Strandpromenade aufgewertet<br />
durch den Bau eines Radweges, der 2011<br />
zum schönsten in Europa gewählt wurde – und<br />
der vier Jahr später Schauplatz der 1. Etappe des<br />
Giro war, einem Mannschaftszeitfahren. Wenn<br />
er von Osten in den Hafen von San Remo hineinführt,<br />
führt der Weg an der Villa vorbei, in die<br />
Alfred Nobel Ende des 19. Jahrhundert aus Paris<br />
floh, nachdem er beschuldigt worden war, den<br />
Hochverrat begangen zu haben, das explosive<br />
Ballistit, das auch seine Erfindung war, nach<br />
Italien zu verkaufen. Nach seinem Tod in San<br />
Remo 1896 floss Nobels Nachlass in die Schaffung<br />
von Preisen für Chemie, Literatur, Frieden,<br />
Physik und Medizin, wie er es in seinem Testament<br />
festgelegt hatte.<br />
Ein Preis für herausragende Errungenschaften<br />
im Radsport sollte erst 1907 nach San Remo<br />
kommen. 109 Mal ist in den Jahren seitdem dieselbe<br />
unaufhaltsame Welle am Turchino angeschwollen<br />
und dann auf die Küste in Frankreich<br />
geschwappt, ihre Gezeiten gewaltig und unlesbar,<br />
ihre Spannung spürbar und unwiderstehlich.<br />
Mark Cavendish sieht es vielleicht anders, aber<br />
für mich war und ist sein Sieg immer das Rennen<br />
seiner Karriere, der Ritt seines Lebens. An dem<br />
Tag selbst war er froh, dass bis gegen halb fünf<br />
nachmittags niemand seinen Namen erwähnt<br />
hatte. Ob es ihm gefällt oder nicht: Jetzt wird er<br />
einfach akzeptieren müssen, dass wir so lange<br />
über Mark Cavendish und jenes Rennen reden, wie<br />
die erhabene und archaische Anomalie, die wir als<br />
Mailand–San Remo kennen, existieren darf.<br />
2010 gewann Freire zum dritten Mal<br />
auf der Lungomare Italo Calvino – sechs<br />
Jahre nach seinem ersten Sieg 2004.<br />
58 PROCYCLING | FEBRUAR 2019