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Procycling 02.19

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RETRO<br />

1992<br />

© Offside Sports Photography<br />

Vordergründig war das Finale in der Einerverfolgung<br />

der olympischen Spiele 1992 ein Kampf<br />

Mann gegen Mann. Viel einzelsportlicher als bei<br />

der Verfolgung geht es nicht – zwei Fahrer allein<br />

auf der Bahn. Aber Boardmans Vormarsch ins<br />

Finale war das Ergebnis einer bemerkenswerten<br />

Mannschaftsleistung gewesen. Ein Aspekt war<br />

seine Zusammenarbeit mit Lotus, die eine perfekt<br />

getimte einmalige Sache war; ein anderer die ungewöhnlich<br />

enge Beziehung zu seinem Trainer<br />

Peter Keen, einem innovativen und kreativen<br />

Wissenschaftler, der nur ein paar Jahre älter als<br />

Boardman war. Es heißt, Radsport ist ein Mannschaftssport<br />

für Einzelgänger. Aber die olympische<br />

Verfolgung 1992 war eine Einzelsportart für<br />

ein Team.<br />

SELBSTVERBESSERUNG<br />

Das Berühmteste, was Chris Boardman je sagte,<br />

war in einem Interview Anfang 1992 der Satz:<br />

„Radfahren macht mir keinen besonderen Spaß.“<br />

Die britische Radsport-Öffentlichkeit brauchte<br />

Jahre, um ihm zu vergeben oder vielmehr zu verstehen,<br />

was er eigentlich gesagt hatte.<br />

Boardman war in seiner Karriere ein von Natur<br />

aus ernster Mensch, äußerlich emotionslos,<br />

nüchtern und lakonisch, mit einem knochentrockenen<br />

Sinn für Humor. Auch heute ist er immer<br />

noch ein bisschen so, als Fernsehpersönlichkeit<br />

und Lobby ist für Radsport-Infrastruktur, obwohl<br />

er versichert, inzwischen viel entspannter zu<br />

sein. Als Teenager nannten ihn seine Vereinskameraden<br />

„Onkel Chris“, weil er für sein Alter sehr<br />

ernst wirkte.<br />

ALS TEENAGER NANNTEN IHN<br />

SEINE VEREINSKAMERADEN<br />

„ONKEL CHRIS“, WEIL ER FÜR<br />

SEIN ALTER SEHR ERNST<br />

WIRKTE.<br />

Sein Weg nach Barcelona und weiter zum Stundenweltrekord<br />

und ins Gelben Trikot verlief auf<br />

Umwegen, die auf den windumtosten Schnellstraßen<br />

der britischen Zeitfahrszene begannen.<br />

Er hatte sich seine Eltern gut ausgesucht – er<br />

wurde als Kind eines Zeitfahrer-Vaters (der in die<br />

engere Auswahl für die britischen Mannschaftsverfolger<br />

für Olympia in Tokio 1964 kam) und<br />

einer radfahrbegeisterten Mutter geboren. Da sie<br />

ihren Sohn anfangs nicht zu ihrer Leidenschaft<br />

drängen wollten, zögerten sie, den jungen Chris<br />

auf ein Rad zu setzen, und ließen ihn den Sport<br />

selbst entdecken.<br />

Boardman mag das Radfahren keinen besonderen<br />

Spaß gemacht haben, wie er später zugab.<br />

Doch er war extrem gut darin und es war ein Ventil<br />

für seine größte Liebe, das, was ihn wirklich<br />

motivierte: Verbesserung. Mit 13 Jahren nötigte<br />

er seine Eltern, ihn an seinem ersten Zehn-Meilen-Zeitfahren<br />

teilnehmen zu lassen, und fuhr<br />

29:43 Minuten. Eine Woche später trat er wieder<br />

an, nachdem er ein bisschen über Krafteinteilung<br />

und Effizienz nachgedacht hatte, und fuhr 28<br />

und ein paar Zerquetschte. Jetzt hatte es ihn gepackt.<br />

Bis zum Jahresende hatte er sich um vier<br />

Minuten verbessert. Bis zum Ende des folgenden<br />

Jahres, 1983, war er runter auf 21 Minuten und<br />

unter einer Stunde für 25 Meilen (ohne Zeitfahrlenker).<br />

1984 stellte er noch in der Jugend-Kategorie<br />

mit 52:09 Minuten einen nationalen Juniorenrekord<br />

über 25 Meilen auf.<br />

Es klingt, als wäre Boardman immer zum Großem<br />

bestimmt gewesen, doch obwohl er klar der<br />

beste junge Fahrer des Landes war, verbrachte er<br />

viel Zeit damit, nationale Meisterschaften nicht zu<br />

gewinnen. Zwei Wochen, nachdem er den britischen<br />

25-Meilen-Rekord der Junioren aufgestellt<br />

hatte, wurde er nur Fünfter der nationalen 25-Mei -<br />

len-Meisterschaft seiner Altersklasse, da er sich<br />

vor Nervosität nicht konzentrieren konnte. Auch<br />

seine Ambitionen auf der Bahn wurden vereitelt<br />

– gerade als er sich als bester Junioren-Verfolger<br />

Großbritanniens hervorzutun schien, tauchte Colin<br />

Sturgess aus Südafrika auf, ein noch frühreiferes<br />

Talent, und schlug Boardman von 1985 bis<br />

1987 locker. Erst 1988 gewann Boardman einen<br />

wichtigen nationalen Einzeltitel, den National Hill<br />

Climb, und als Sturgess 1989 Profi wurde, war<br />

der Weg für Boardman etwas freier.<br />

ZWEI SCHLAUE KÖPFE<br />

Als Peter Keen Chris Boardman das erste Mal<br />

traf, war er enttäuscht. Der Fahrer war im Winter<br />

1986/87 unfit zu einem physiologischen Test in<br />

seinem Labor am University College Chichester<br />

erschienen und lieferte vergleichsweise mittelmäßige<br />

Zahlen ab.<br />

Keen machte sich damals gerade einen Namen<br />

– erst Anfang 20, war er Dozent in Sportphysiologie<br />

geworden und hatte einschlägige Erfahrung als<br />

Trainer, da er mit dem zweifachen Profi-Weltmeister<br />

in der Verfolgung, Tony Doyle, gearbeitet hatte.<br />

Der frühere Zeitfahr-Champion der Schüler war<br />

Anfang der 1980er ins nationale Radsportprogramm<br />

gekommen und erkrankt, übertrainiert<br />

und ausgebrannt daraus hervorgegangen. Nachdem<br />

er mittelmäßige Abiturnoten (ausreichend in<br />

Mathe, mangelhaft in Physik und ungenügend in<br />

Biologie) bekommen hatte, schrieb er sich für ein<br />

Sportstudium in Chichester ein, wo er das Glück<br />

hatte, einen der innovativsten Sportwissenschaftler<br />

des Landes, Professor Tudor Hale, als Lehrer zu<br />

haben. „Als ich mit einem hervorragenden Lehrer<br />

Boardman hat’s geschafft und kassiert<br />

Lehmann im Finale der Einerverfolgung.<br />

82 PROCYCLING | FEBRUAR 2019

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