Procycling 02.19
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RETRO<br />
1992<br />
MENSCH UND<br />
SUPERMASCHINE<br />
„Dass Chris Boardman 1992 die olympische Verfolgung<br />
gewann, ist die erste Erinnerung, die ich an den Radsport<br />
habe. Ich hatte noch gar nichts damit zu tun, aber ich<br />
wusste, dass ich Rad fahren und so einen Helm tragen<br />
wollte. Ich ging mit meinen Freunden in den Park und wir<br />
fuhren eine Verfolgung auf dem Fußweg – wir sind<br />
gefahren, bis wir die anderen hatten.“<br />
Text Edward Pickering Fotografie Shutterstock<br />
Die Geschichte begann und endete im<br />
Velòdrom d’Horta in Barcelona in dem<br />
Moment eines frühen Mittsommerabends,<br />
an dem das Licht weicher wird und alles<br />
nach dem harten, hellen Licht des Tages in ein<br />
warmes Glühen taucht. Die Hitze strahlte von<br />
allen Oberflächen ab, sodass die ganze Nacht<br />
T-Shirt- und Shorts-Wetter war.<br />
Auf der Bahn: zwei Männer, einer auf jeder Seite.<br />
Der Brite Chris Boardman gegen den Deutschen<br />
Jens Lehmann im Finale der Einerverfolgung<br />
der Olympischen Spiele 1992. Boardman<br />
strebte – haltet euch fest, jüngere Fans mit wenig<br />
Wissen über den Radsport vor den 2000ern – die<br />
erste Radsport-Goldmedaille für Großbritannien<br />
seit 72 Jahren an, Lehmann war amtierender<br />
Weltmeister. Am Tag des Finales, dem 29. Juli,<br />
musste Großbritannien erst noch eine Goldmedaille<br />
gewinnen. Das öffentliche und mediale<br />
Interesse war enorm.<br />
Auch die britische Öffentlichkeit versprach<br />
sich viel von Boardman. Die Fans auf der Insel, in<br />
Sachen olympische Erfolge nicht verwöhnt, hatten<br />
mitbekommen, dass es ein arbeitsloser Möbelschreiner<br />
aus der Nähe von Liverpool ins Finale<br />
der Verfolgung geschafft hatte. Aber noch mehr<br />
interessierte sie, womit er fuhr.<br />
Jedes Olympia hat seinen Star oder seine prägende<br />
Geschichte. In Rio de Janeiro 2016 war es<br />
die Turnerin Simone Biles. Vier Jahre zuvor in<br />
London war es Bradley Wiggins. Peking: Usain<br />
Bolt. Aber 1992 war der größte Star – zumindest<br />
für die britischen Sportfans – ein Rad. Oder besser<br />
DAS Rad. Das Lotus Sport 108, auf dem<br />
Boardman auf der Gegengeraden des Velodroms<br />
saß, sah futuristisch aus und wirkt selbst aus der<br />
Perspektive von 2018 modern. 1992 hatten die<br />
wenigsten Radsportfans je so etwas gesehen. Es<br />
war ein geschwungener Carbonrahmen aus einem<br />
Guss mit einem einzigen Gabelbein und einem<br />
ebenfalls nur an einer Seite befestigten Hinterrad.<br />
Es war schön, stilvoll und stromlinienförmig, lackiert<br />
im legendären Schwarz und Gelb des Lotus-F1-Teams<br />
und mit organischen, schnell aussehenden<br />
Formen gesegnet.<br />
Wenn man einen Moment auswählen müsste,<br />
in dem Rennräder aufhörten, traditionell auszusehen,<br />
und anfingen, modern zu sein, könnte es<br />
der frühe Abend des 28. Juli 1992 sein. Boardman<br />
vervollständigte den futuristischen Look mit<br />
einer flachen und gestreckten Haltung und einem<br />
tropfenförmigen Helm, dessen spitzes Ende bis<br />
zwischen die Schultern reichte. Ebenso viel Aufmerksamkeit<br />
wie dem Mann, der es fuhr, wurde<br />
dem Rad geschenkt.<br />
Boardman, der einige Wochen später 24 wurde,<br />
war der Favorit, obwohl chronische Nervosität,<br />
geringes Selbstwertgefühl, einige schlechte Erfahrungen<br />
bei vorausgegangenen Weltmeisterschaften<br />
und eine trübselig-pessimistische Weltanschauung<br />
dazu führten, dass er einen Teil der<br />
Vorbereitung auf das Finale damit verbrachte, sich<br />
in die Position des Underdogs hineinzureden. Er<br />
war im Halbfinale in einer langsameren Zeit zu<br />
einem lockeren Sieg gefahren als Lehmann in seinem,<br />
sodass er auf der hinteren Geraden startete<br />
und der Deutsche auf der vorderen.<br />
Während die Augen der Sportöffentlichkeit<br />
auf Boardman gerichtet waren, hatte der Fahrer<br />
selbst versucht, alle äußeren Reize und Ablenkungen<br />
aus der Stille vor dem Rennen auszuschließen.<br />
Nur das mechanische Ticken und<br />
Klappen der Zahlen an der Countdown-Uhr vor<br />
ihm auf dem Innenfeld der Radrennbahn drang in<br />
sein Bewusstsein.<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 81