Procycling 02.19
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WISSEN IST MACHT<br />
© Getty Images<br />
„Ich für meinen Teil finde, dass es nicht nötig ist,<br />
die Fahrer an den Tagen vor dem Rennen mit Informationen<br />
zu überladen“, sagt Fernández, von dem<br />
sein früherer Fahrer Igor Antón sagt, er sei „einer,<br />
der bei der Rennplanung zur Avantgarde gehört<br />
und weiß, welche Hilfe wir Fahrer brauchen. Ich<br />
ziehe es vor, mir am Abend vor dem Rennen die<br />
Details genauer anzuschauen oder auch noch<br />
bei der Teambesprechung im Bus am Morgen.<br />
Bei der Teambesprechung im Bus gibt es normalerweise<br />
eine PowerPoint-Präsentation“, so<br />
Fer nán dez weiter. „Wir skizzieren den Kurs, das<br />
Wetter, die Strategie und mögliche Szenarios im<br />
Rennen, die andere Teams herbeiführen können“,<br />
sagt Guercilena.<br />
„Wir versuchen, so viele Informationen wie<br />
möglich in eine Besprechung zu packen, die maximal<br />
15 Minuten dauern sollte“, sagt Groupama-<br />
FDJ-Coach Julien Pinot. „Wir besprechen auch die<br />
Straßenbreite in wichtigen Abschnitten und wie<br />
die darauf zuführenden Straßen aussehen – mit<br />
Videos oder zumindest mit Screenshots von Google<br />
Street View.“<br />
Außerdem, so Fernández, gibt es spezielle Vorgaben<br />
für Flachetappen für Sprinter: „Bei Sprintern<br />
geht es darum, dass sie sich die Straßenkarte<br />
ansehen und sich Kurven und Kreisverkehre einprägen“,<br />
sagt er. „Die meisten haben eine beneidenswerte<br />
Fähigkeit, die letzten Kilometer zu<br />
visua lisieren und im Kopf abzuspeichern. Und<br />
dann ist da der Wind. Die Geschwindigkeit des<br />
Sprints schwankt stark, je nach Windrichtung.<br />
Daher ist die Taktik des Sprintzugs sehr stark darauf<br />
ausgerichtet.“<br />
Nach all dieser Strategie kommt die Taktik. Obwohl<br />
die Taktik oft improvisiert wird, wollen die<br />
Fahrer das Gefühl haben, dass ein kühler Kopf auf<br />
dem Fahrersitz ist, der nicht von einer Herzfrequenz<br />
von 170 Schlägen pro Minute beeinflusst<br />
wird – sie wollen eine Stimme, auf die sie sich verlassen<br />
können.<br />
„Ich mag Patxi Vila, weil er im Mannschaftswagen<br />
alles ausrechnet“, sagt Bora–hansgrohe-<br />
Fahrer Lukas Pöstlberger. „Sich darauf verlassen<br />
zu können, dass der Sportdirektor alles unter<br />
„ICH FÜR MEINEN TEIL<br />
FINDE, DASS ES NICHT NÖTIG<br />
IST, DIE FAHRER AN DEN<br />
TAGEN VOR DEM RENNEN<br />
MIT INFORMATIONEN ZU<br />
ÜBERLADEN.“<br />
BINGEN FERNÁNDEZ, SPORT-<br />
DIREKTOR DIMENSION DATA<br />
Pinot nutzte sein Wattmessgerät<br />
sehr effektiv<br />
auf der 15. Etappe der<br />
Vuelta, wo er am<br />
Covadonga siegte.<br />
Kontrolle und für alles eine Lösung hat, ist ein<br />
gutes Gefühl.“<br />
Fahrer und Sportliche Leiter müssen während<br />
des Rennens über das aktuelle Geschehen auf<br />
dem Laufenden gehalten werden, um ihre Taktik<br />
darauf einzustellen. „Während des Rennens folgen<br />
zwei Sportdirektoren dem Rennen, während<br />
ein Coach ein paar Minuten vor der Karawane den<br />
Kurs abfährt“, sagt Pinot. „Der Coach hat die Aufgabe,<br />
jedes relevante Detail zu entdecken, das in<br />
der Vorbereitung übersehen wurde, wie etwa<br />
Kreisverkehre, die nur auf einer Seite befahrbar<br />
sind, oder große Zuschauermengen an einem bestimmten<br />
Abschnitt der Straße oder nasses Kopfsteinpflaster<br />
in einem Ortskern. Er sammelt diese<br />
Infos und gibt sie an den Sportlichen Leiter weiter,<br />
der sie an die Fahrer weitergibt.“<br />
Die Teams müssen auch auf das reagieren, was<br />
ihre Rivalen machen, obwohl Allan Peiper, der<br />
2019 als Sportlicher Leiter von BMC zu UAE<br />
Emirates wechselt, sagt: „Deine eigene Taktik zu<br />
definieren ist wichtiger als versuchen zu raten,<br />
was deine Rivalen zu tun versuchen könnten.“<br />
„Um die Ausreißer in Schach zu halten, musst<br />
du wissen, wer stark ist und wer nicht“, sagt<br />
CCC-Kletterer Simon Geschke. „Bei großen Rundfahrten<br />
fährst du drei Wochen lang gegen dasselbe<br />
Peloton, sodass du jeden Fahrer kennst. Bei kleineren<br />
Rennen musst du ein paar Hausaufgaben<br />
machen. Es gibt Fahrer – wie Vasil Kiryienka oder<br />
Alexis Gougeard –, wo du niemals zulassen darfst,<br />
dass sie es in eine Ausreißergruppe schaffen,<br />
wenn du willst, dass es zu einem Sprint kommt.“<br />
„Die starken Fahrer zu kennen, ist bei großen<br />
Rennen natürlich leichter, da wir lange im Voraus<br />
wissen, gegen wen wir fahren“, sagt Guercilena.<br />
„Aber bei kleineren Rennen bekommst du am<br />
Vorabend die Startliste, und sie könnte voller<br />
Conti- und ProConti-Teams sein, auf die du nicht<br />
so häufig triffst. Wir hatten Situationen, in denen<br />
einer unserer Fahrer in einer Ausreißergruppe mit<br />
fünf anderen Fahrern war, die er noch nie in seinem<br />
Leben gesehen hatte. Deswegen stellen die<br />
Mitarbeiter am Vorabend des Rennens einige Recherchen<br />
an, um jeden Fahrer im Rennen einschätzen<br />
zu können.“<br />
Strategie und Taktik basieren oft auf der Verwendung<br />
von Wattmessgeräten. Figuren wie Alberto<br />
Contador und Nairo Quintana haben sich<br />
gegen die Geräte ausgesprochen – nach Wattzahlen<br />
zu fahren, habe das Team Sky in die Lage<br />
versetzt, einige Rennen völlig unter Kontrolle zu<br />
haben, insbesondere Bergetappen bei großen<br />
Rundfahrten, argumentierten sie.<br />
„Ja, wir sagen einigen Fahrern, wie viel Watt<br />
sie in jedem Abschnitt eines entscheidenden Anstiegs<br />
schätzungsweise treten können und müssen“,<br />
gibt Artetxe zu.<br />
Aber es ist nicht unbedingt so einfach, dass ein<br />
Fahrer einfach seinem Wattmessgerät folgt. Der<br />
78 PROCYCLING | FEBRUAR 2019