Procycling 02.19
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GEHIRNERSCHÜTTERUNGEN<br />
Fußballprofi Christoph Kramer kann sich<br />
an 14 Minuten des größten Spiels seines<br />
Lebens nicht erinnern. Er bekam einen<br />
Schlag gegen den Kopf, als er zu Beginn des<br />
WM-Endspiels 2014 mit einem argentinischen<br />
Gegner zusammenprallte, durfte aber weiterspielen.<br />
Dann wandte er sich an den Schiedsrichter<br />
und fragte: „Schiri, ist das das Finale? Der verblüffte<br />
Offizielle informierte den deutschen Kapitän,<br />
aber Kramer durfte 14 weitere Minuten spielen,<br />
an die er keine Erinnerung hat. Dann brach er<br />
zusammen und wurde vom Platz geführt.<br />
So etwas wird jedem bekannt vorkommen, der<br />
den Profiradsport verfolgt. Man erinnere sich, wie<br />
Chris Horner die Ziellinie der 7. Etappe der Tour<br />
de France 2011 überquerte und unzusammenhängend<br />
brabbelte oder wie Toms Skujinš bei der<br />
Kalifornien-Rundfahrt 2017 benommen dem<br />
näher kommenden Peloton auswich, als er seinen<br />
Fahrradcomputer von der Straßenmitte aufheben<br />
wollte, bevor er mit gebrochenem Schlüsselbein<br />
wieder aufs Rad stieg.<br />
Mit einer Gehirnerschütterung weiterzuspielen,<br />
ist offensichtlich nicht gut. Im Fußball,<br />
Boxen, Rugby, American Football – nach einer<br />
großen Sammelklage ehemaliger Spieler, die argumentierten,<br />
dass die NFL sie absichtlich über<br />
die Gesundheitsrisiken wiederholter Gehirnerschütterungen<br />
im Unklaren gelassen habe – und<br />
im Eishockey will man dieses grundlegende Problem<br />
jetzt in Angriff nehmen. Aber laut dem<br />
Hamburger Sportarzt Helge Riepenhof, der sich<br />
auf Traumatologie spezialisiert und für eine Reihe<br />
von Fußballclubs und Radsportteams, darunter<br />
Dimension Data, gearbeitet hat, tut der Radsport<br />
nichts.<br />
„Es ist wirklich schlecht, wie es immer noch<br />
gehandhabt wird“, stellt er fest. „Sie tun nichts,<br />
um bei einem Sturz eines Fahrers direkt eine objektive<br />
Entscheidung zu treffen, ob er das Rennen<br />
fortsetzen kann oder nicht. Und aus meiner Sicht<br />
ist das eine unhaltbare Situation.“<br />
Er fügt hinzu: „Wir wissen, dass er [Christoph<br />
Kramer] bei einem zweiten Zusammenprall hätte<br />
sterben können. In England und im englischen<br />
Fußball entwickelt es sich sehr gut, ebenso im<br />
Boxen, aber in Sportarten wie dem Radsport ist<br />
nicht viel passiert.“<br />
Hintern“, sagt Cavendish zu <strong>Procycling</strong>. „Ich weiß<br />
nicht, was da vorne passierte, aber mein Laufrad<br />
hatte sich in seinem Schnellspanner verhakt. Ich<br />
bin irgendwie gefallen und wir fuhren total langsam.<br />
Aber ich landete auf dem Laufrad des Typen<br />
neben mir, bums. Und ich habe mir nicht einmal<br />
den Kopf gestoßen. Ich bin mit dem Hals auf dem<br />
Laufrad aufgekommen.“<br />
Er sagt weiter: „Ich hatte keinen Kratzer. Ich<br />
stand auf und war … war … aus dem Spiel. Als<br />
wäre ich betrunken. Wie wenn man so betrunken<br />
ist, dass alles ein Dunstschleier ist. Ich konnte<br />
alles sehen, aber … es war jenseitig. Als wäre ich<br />
gar nicht da.“<br />
Cavendish stieg sofort wieder aufs Rad und<br />
setzte das Rennen fort, eine Situation, die im<br />
Radsport so verbreitet ist, dass sie fast nie infrage<br />
gestellt wird. „Setzt mich wieder aufs Rad“, heißt<br />
es, und wieder aufs Rad zu steigen ist absolut<br />
üblich.<br />
„Ich dachte, auweia, ich fühle mich gar nicht<br />
gut, Mann. Ich kam zurück, das Rennen ging los<br />
und ich erinnere mich, dass die Leute mit mir redeten.<br />
Ich erinnere mich an alles, aber es war seltsam.<br />
Du weißt, was sie sagen, aber … Ich konnte<br />
nicht auf sie reagieren. Ich habe mich nach einem<br />
Kilometer zum Teamarzt zurückfallen lassen und<br />
gesagt: Mit mir stimmt etwas nicht, Mann. Er war<br />
ein guter Teamarzt und hat sofort gesagt: ‚Steig’<br />
vom Rad.‘“<br />
Es gibt Tausende von Gründen, warum es im<br />
Radsport immer noch diese selbstzerstörerische<br />
Durchhaltemoral gibt. Der Sport bleibt chronisch<br />
unsicher – die Fahrer brauchen Resultate und<br />
scheuen Ausfallzeiten –, und die Unterschiede<br />
sind geringer denn je. Vor allem aber wird das Leiden<br />
im Radsport glorifiziert. Seine Struktur ermutigt<br />
dazu. Bei den großen Rundfahrten hören die<br />
Fahrer, sie müssten weiterkämpfen und am zweiten<br />
Ruhetag werde es besser, das Team könne<br />
nicht noch einen Fahrer verlieren und außerdem<br />
sei dies die Tour de France! Bei Eintagesrennen<br />
heißt es: Beiß’ die Zähne zusammen und mach’<br />
weiter, du musst ein Jahr auf die nächste Chance<br />
warten, es ist Paris–Roubaix, es muss schwer sein!<br />
Aber bei dieser Gelegenheit und vielleicht bei<br />
Dutzenden anderen zuvor hätte Cavendish nicht<br />
wieder aufs Rad steigen sollen. Er hatte Glück,<br />
dass er und sein Arzt die Symptome bemerkten,<br />
bevor es zu spät war.<br />
Eines ist klar: Ein benommener Fahrer ist eine<br />
Gefahr für sich selbst und den Rest des Pelotons.<br />
In anderen Fällen können die Symptome lange<br />
Bei der Tour 2011 zog sich Chris<br />
Horner eine Gehirnerschütterung<br />
zu und konnte sich kaum erinnern,<br />
wie er ins Ziel gekommen war.<br />
© Getty Images<br />
Mark Cavendish ist einer der Fahrer, der<br />
die Folgen einer Gehirnerschütterung<br />
sehr gut kennt. Nachdem er bei T-Mobile,<br />
Highroad und Quick-Step immer wieder mit<br />
Riepenhof zu tun hatte, holte sich Cavendish nach<br />
einer Reihe von Stürzen 2018 bei ihm Hilfe. Es<br />
begann mit einem harmlosen Sturz auf der Auftaktetappe<br />
der Abu Dhabi Tour am 21. Februar.<br />
„Ich war in der zweiten oder dritten Reihe in<br />
der neutralisierten Zone hinter dem Wagen. Da<br />
bremst der Typ vor mir und ich sitze ihm auf dem<br />
70 PROCYCLING | FEBRUAR 2019