Procycling 02.19
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MARIANNE VOS<br />
auf und sprintete durch bis zur Ziellinie. Niemand<br />
sonst konnte ihr folgen.<br />
„Das war eines der Rennen, bei denen ich dachte:<br />
Okay, so will ich fahren. Rennen fahren nach<br />
Intuition. Wenn ich darüber nachgedacht hätte,<br />
hätte ich gesagt: Nein, du bist verrückt, du startest<br />
keinen Sprint 300 Meter vor der Linie, mit<br />
den besten Sprintern der Welt am Hinterrad. Es<br />
kam aus dem Bauch heraus“, sagt Vos.<br />
„Das war der größte Sieg; nicht der Sieg selbst,<br />
sondern mehr das Gefühl, im Rennen wieder ich<br />
selbst zu sein.“<br />
Die Stärke im Peloton der Frauen hat während<br />
der Ära Vos im Radsport zugenommen. Es ist<br />
nicht so einfach für eine Fahrerin, alles zu dominieren,<br />
von Sprints über Kopfstein-Klassiker bis<br />
hin zu bergigen Etappenrennen, wie sie es früher<br />
tat. Aber Vos hat aufgehört zu versuchen, jedes<br />
Rennen zu fahren und alles zu gewinnen. Etappenrennen<br />
sind nicht unbedingt ihr Ziel, da sie<br />
nicht genug Regenerationszeit bieten, die sie<br />
braucht, auch wenn der Siegertyp in Vos immer<br />
noch alles fahren und gewinnen will, was geht.<br />
„Ich konzentrierte mich auf die Eintagesrennen<br />
und versuchte, darin gut zu sein. Wie ich bereits<br />
sagte, bin ich natürlich eher ein Sprintertyp, sodass<br />
ich bei den Klassikern gut abschneiden kann,<br />
aber nicht bei den spezifischen Kletterrennen.<br />
Also haben mein Team und mein Trainer beschlossen,<br />
uns zuerst auf das zu konzentrieren,<br />
SIEGE<br />
9<br />
’06<br />
’08<br />
23<br />
’10<br />
18<br />
’11<br />
31<br />
was mir liegt, darauf zu trainieren und von dort<br />
aus weiter aufzubauen“, sagt sie.<br />
„Es gibt auch einen Teil von mir, der in allen<br />
Bereichen besser werden will, also musste ich von<br />
dem Punkt an, an dem ich war, sagen: Okay, ich<br />
muss mich zuerst auf die Sprints oder auf die hügeligen<br />
Klassiker konzentrieren, anstatt auf die<br />
Berge. Aber es gibt immer einen Teil von mir, der<br />
mehr will. Doch ich habe in den letzten Jahren<br />
gelernt, wie man sich besser ausbalanciert.“<br />
SIEGE PRO JAHR<br />
Marianne Vos’ 209 UCI-Rennsiege während der 13 Jahre ihrer bisherigen Karriere,<br />
Saison für Saison. 2011 ragt mit ganzen 31 Erfolgen heraus.<br />
’07<br />
21<br />
’09<br />
18<br />
’12<br />
20<br />
’13<br />
22<br />
’14<br />
21<br />
0<br />
’15<br />
’16<br />
9<br />
’17<br />
9<br />
’18<br />
8<br />
ES IST MIR WICHTIG, AUF DEM<br />
BODEN ZU BLEIBEN. JEDER HAT<br />
EIN TALENT UND ALLE WOLLEN<br />
ES IM LEBEN GUT MACHEN,<br />
ABER ICH GLAUBE NICHT, DASS<br />
ES MEDAILLEN ODER<br />
ERGEBNISSE SIND, DIE IM LEBEN<br />
SO SEHR ZÄHLEN.<br />
Es wäre bei ihrem Palmarès für Vos ein<br />
Leichtes, eingebildet, arrogant oder unnahbar<br />
zu sein. Aber das ist einfach nicht ihr<br />
Stil. Selbst auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs<br />
wirkte Vos immer geerdet. Das ist sie immer<br />
noch. Sie mag eine Weltklasse-Athletin sein, aber<br />
sie wirkt ein wenig wie alle anderen. Bekannterweise<br />
reist sie im Wohnmobil samt Familie und<br />
Katze zu Rennen. Wenn sie nicht gerade an einem<br />
der 200 Tage des Jahres arbeitet, teilt sie ihre Zeit<br />
zwischen ihrem Elternhaus und ihrem Freund<br />
auf. Selbst als wir sprechen, fragt sie, ob wir das<br />
Interview auf den Mittag verschieben könnten,<br />
damit sie früher zu Bett komme, da es ihr nicht<br />
gut ginge. Fast so, als würden wir nicht erwarten,<br />
dass Vos jemals krank wird.<br />
Ihre wenige Freizeit verbringt sie damit, die<br />
einfachen Dinge des Lebens zu genießen: lesen,<br />
Musik hören, mit ihrer kleinen, aber engen Gruppe<br />
von Freunden zu Abend essen. Draußen zu<br />
sein ist ihr wichtig, sei es auf dem Fahrrad oder<br />
bei einer Wanderung im Wald oder den Bergen.<br />
„Es ist mir sehr wichtig, auf dem Boden zu<br />
bleiben. Jeder hat ein Talent und alle wollen es im<br />
Leben gut machen, aber ich glaube nicht, dass es<br />
Medaillen und Goldmedaillen oder Ergebnisse<br />
sind, die im Leben so sehr zählen. Es geht darum,<br />
wer man ist und was man tut. Für mich ist das<br />
also wichtiger als die Resultate im Radrennsport,<br />
obwohl ich gut sein will; und ja, meine Familie<br />
war wirklich wichtig“, sagt sie.<br />
Was ihre alternative Art des Reisens betrifft:<br />
„Die Leute sagen immer: ‚Du bleibst so normal,<br />
du reist mit deiner Katze.‘ Aber für mich ist es<br />
eben einfach nichts Besonderes. Es ist nicht seltsam,<br />
normal zu sein, so ist mein Leben. So mag<br />
ich es. Ich denke, es wirkt manchmal ein bisschen<br />
komisch für die Leute. Ja natürlich, ich hätte in<br />
Monaco leben können und wahrscheinlich zu den<br />
Galas und so weiter gehen können, aber das gefällt<br />
mir nicht. Ich liebe es, wo ich herkomme, und<br />
ich mag die Menschen um mich herum. Für mich<br />
zählt das mehr als Glitzer und Glamour.“<br />
Die Saison 2015 zwang Vos auch, über die<br />
Zukunft nachzudenken, das „Jenseits“. Sie hat<br />
sich in der Kommentatoren- und Medienarbeit<br />
versucht, aber vor allem will sie einen Weg finden,<br />
ihre Erfahrungen aus dem Radsport in irgendeiner<br />
Weise weiterzugeben, sei es im Sport oder in einem<br />
anderen Bereich. Letztlich liebt Marianne<br />
Vos es aber einfach, Fahrrad zu fahren, und das<br />
wird sich wahrscheinlich nie ändern.<br />
„Es ist keine Wahl, es ist eine Lebensweise,<br />
du bist kein Athlet von neun bis fünf, du bist ein<br />
Athlet rund um die Uhr. Aber ich habe es noch<br />
nie als großes Opfer gesehen, denn es gibt mir<br />
auch viel“, sagt sie. „Wenn ich zu meiner inneren<br />
Motivation zurückkehre, auf meinem Fahrrad an<br />
einigen schönen Orten durch die ganze Welt fahre<br />
und dann das tue, was ich am meisten liebe –<br />
dann ist das eigentlich kein großes Opfer.“<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 67