22.03.2019 Aufrufe

Procycling 02.19

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

ins Labor ging, war ich ein ganz anderer Mensch“,<br />

sagt er über sein Grundstudium. Ein Jahr später<br />

gewann er die vom Sports Council vergebene Auszeichnung<br />

„Dissertation des Jahres“. Er verbrachte<br />

lange Abende in der Universitätsbibliothek und las<br />

die Werke des Wissenschaftsphilosophen Karl<br />

Popper – der erhellende Moment kam, als er erkannte,<br />

dass es bei der Wissenschaft in ihrer<br />

reinsten Form nicht darum geht, im Klassenzimmer<br />

zu sitzen und Fakten aufzusaugen, sondern<br />

vielmehr um Wahrscheinlichkeit und Methode.<br />

„Es ging darum, Fragen zu stellen“, sagte er.<br />

Keen testete Boardman und entließ ihn mit einem<br />

Trainingsplan, den er in den folgenden drei<br />

Monaten befolgen sollte. Als er zurückkam, beschrieb<br />

Keen die Verbesserung als „verblüffend“:<br />

Der Fahrer war vier Kilo leichter und trat 50 Watt<br />

mehr. Auch da war er noch nicht überzeugt, dass<br />

Boardman ein künftiger Champion war, aber er<br />

hielt sich nur an die Zahlen (an sich damals eine<br />

revolutionäre Methode). Keen maß Puls und<br />

Wattzahlen und stellte die Werte neben die subjektive<br />

Wahrnehmung der Anstrengung, was<br />

Boardman das gab, was ihn motivierte – die Möglichkeit,<br />

seine Fortschritte aufzuzeichnen.<br />

Das Timing ihres Zusammentreffens war<br />

glücklich. Boardmans früherer Coach, Eddie<br />

Soens, war der typische feurige Motivator gewesen.<br />

Er hatte Boardmans Klasse erkannt und der<br />

zwanghaften Natur des Fahrers einen kämpferischen<br />

Antrieb hinzugefügt. Aber Keen brachte<br />

etwas anderes. Er versuchte, mit den wissenschaftlichen<br />

Methoden an das Coaching heranzugehen,<br />

die er an der Universität gelernt hatte, und<br />

fing lieber mit einem unbeschriebenen Blatt an,<br />

statt sich auf überliefertes Wissen zu verlassen.<br />

Und mit Boardman hatte er das perfekte Versuchskaninchen.<br />

Dank Boardmans angeborener Ehrlichkeit<br />

und Geradlinigkeit war die Qualität seines<br />

Feedbacks hoch. „Ich habe mit ihm schneller gelernt<br />

als mit jedem anderem, mit dem ich gearbeitet<br />

habe, weil er ein so außergewöhnlich guter<br />

und ehrlicher Kommunikator war“, sagte Keen.<br />

Keen hatte aber immer noch nicht begriffen,<br />

dass Boardman ein künftiger Champion war. Die<br />

Zahlen bei diesem zweiten Test waren beeindruckend,<br />

aber Boardmans Power war nie seine<br />

stärkste Waffe. Was ihn außergewöhnlich machte,<br />

war seine Steigerungsrate, seine Lungenfunktion,<br />

die ungewöhnlich effizient war, und die Tatsache,<br />

dass er auf dem Rad eine sehr kleine Stirnfläche<br />

hatte – er konnte effizient fahren, während<br />

er eine aerodynamische Position beibehalten<br />

konnte, die deutlich über dem Durchschnitt lag.<br />

1989 begann Boardman auf nationaler Ebene<br />

zu dominieren – er gewann die britische 25-Meilen-Meisterschaft<br />

mit einer Minute Vorsprung.<br />

Aber er und Keen hatten auch einen möglichen<br />

Weg zur ultimativen Ambition gefunden: eine<br />

Goldmedaille in der Verfolgung bei Olympia<br />

1992. 1989 war Boardman Zehnter der Weltmeisterschaft<br />

geworden. Die grob gesteckten Ziele<br />

waren: 1990 Top Sechs, 1991 Top Drei und im<br />

folgenden Jahr in Barcelona Gold.<br />

Mit niedriger Sitzhaltung und kleiner Stirnfläche<br />

war Boardman sehr aerodynamisch.<br />

Boardman fuhr bei der WM 1990 in der Qualifikation<br />

die siebtschnellste Zeit, und obwohl<br />

er im Viertelfinale ausschied, war er auf gutem<br />

Wege. Aber 1991 kam das böse Erwachen: Er<br />

fuhr in der Qualifikation der Verfolgungs-Weltmeisterschaft<br />

4:31, war aber trotzdem nur Fünfter,<br />

und seine finale Position war Neunter, obwohl<br />

er schneller als je zuvor gefahren war. Auch<br />

die Lücke zur Goldmedaille war größer geworden<br />

– er lag neun Sekunden hinter dem neuen Weltrekord<br />

von 4:22 von Jens Lehmann, der die Goldmedaille<br />

gewann.<br />

Lehmanns Leistung war atemberaubend. Er<br />

war über 4.000 Meter schneller gefahren als das<br />

Team der britischen Mannschaftsverfolger und<br />

hatte sich binnen eines Jahres um ganze 14 Sekunden<br />

gesteigert. Kein Wunder, dass Boardmans<br />

Moral am Boden war. Keen wusste, dass<br />

sein Fahrer kein Mitgefühl brauchte, sondern<br />

Beweise, dass er sich noch ausreichend steigern<br />

konnte, um in Barcelona Gold zu gewinnen. Er<br />

schaute sich Lehmanns Zeit sowie seine Größe,<br />

sein Gewicht und seine Stirnfläche an, rechnete<br />

aus, wie viel Watt Boardman würde treten müssen,<br />

um ihn zu schlagen, und arbeitete aus, was<br />

sie in den verbleibenden zwölf Monaten tun<br />

mussten.<br />

© Getty Images<br />

FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 83

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!