Ulf Miehe - Facetten eines Autors
Ulf Miehe – Facetten eines Autors ist der Versuch einer Biografie in Selbstzeugnissen und Dokumenten, die einen Überblick zu Leben, Persönlichkeit und Werk des Schriftstellers, Filmautors und Regisseurs Ulf Miehe (1940 Wusterhausen|Dosse – 1989 München) geben. Zitate verbinden sich mit Aussagen von Zeitzeugen, Interviews, Essays von renommierten heutigen Autoren und Bildzeugnissen. So entsteht ein facettiertes Bild von Ulf Miehes Denken und Schreiben. Durch das hier zusammengetragene Material eines kreativen Lebens voller Wendepunkte werden auch die gesellschaftlichen Spannungen thematisiert, aus denen ein knappes Werk seine große Lebendigkeit schöpft. Herausgegeben von Horst Kløver, Angelika Miehe und dem Wegemuseum Wusterhausen|Dosse.
Ulf Miehe – Facetten eines Autors ist der Versuch einer Biografie in Selbstzeugnissen und Dokumenten, die einen Überblick zu Leben, Persönlichkeit und Werk des Schriftstellers, Filmautors und Regisseurs Ulf Miehe (1940 Wusterhausen|Dosse – 1989 München) geben. Zitate verbinden sich mit Aussagen von Zeitzeugen, Interviews, Essays von renommierten heutigen Autoren und Bildzeugnissen. So entsteht ein facettiertes Bild von Ulf Miehes Denken und Schreiben.
Durch das hier zusammengetragene Material eines kreativen Lebens voller Wendepunkte werden auch die gesellschaftlichen Spannungen thematisiert, aus denen ein knappes Werk seine große Lebendigkeit schöpft.
Herausgegeben von Horst Kløver, Angelika Miehe und dem Wegemuseum Wusterhausen|Dosse.
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Peter Henning in Abgerechnet wird zum
Schluss über Die Zeit in W und anderswo:
[…] So hören Geschichten auf, so fangen welche an. Folgende
beginnt in den späten sechziger Jahren: ein achtundzwanzigjähriger
Autor namens Ulf Miehe, der mit ersten Gedichten hervorgetreten
war, debütiert nun mit dreizehn Geschichten als Erzähler.
Einer, der seine „Stimme auszubilden“ sucht, bis dato ein
Niemand auf der literarischen Landkarte der Bundesrepublik jener
Jahre; und doch auch einer, der es von Anfang an auf Literatur
abgesehen hat. Eine abgeschlossene Buchhändlerlehre liegt zu
diesem Zeitpunkt hinter ihm; vier Jahre zuvor hat er seine ersten
Gedichte publiziert. Und Miehe geht 1968 neben anderen Autoren
wie Rolf Dieter Brinkmann und Peter Handke an den Start:
Doch mit Brinkmanns Roman Keiner weiß mehr hat er ebenso
wenig am Hut wie mit Handkes Stücken. Beide destillieren auf
ihre Weise die Befindlichkeit einer neuen, noch nicht etablierten
Generation, machen mit neuen, literaturästhetischen Konzepten
und Kampfansagen mobil gegen scheinbar geregelte Lebensformen,
die, längst erstarrt, ihre Widersprüche bloß noch verdrängen.
Doch Miehe siedelt sich zunächst bewusst eine Etage
tiefer an. Ihn interessieren nicht die großen Worte, sondern kleine
Leute; nicht der große Zusammenhang, vielmehr das kleine,
bekanntlich nur allzu vertrackte Zwischenspiel zwischen Ich und
Welt: der Moment, in dem eine Tür zufallt, oder die Sekunde, in
der sich zwei verpassen — und damit, das sich Erinnern oder sich
Vorstellen: Was wäre wenn ... ? So nehmen sich seine 1968 unter
Original-Probedruck von Anne Heseler, 1968
dem Titel Die Zeit in W und anderswo im Peter Hammer Verlag
erschienenen Erzählungen geradezu irritierend selbstbezogen
aus, denn: Wo Brinkmann mit unfrisierten Stillleben aus einer als
Horrorwelt ausgemachten Wirklichkeit zu schockieren sucht, bestechen
Miehes Texte durch die zurückgenommene Art, wie hier
ein Erzähler zunächst einmal in einer gleichwohl dynamischen,
rhythmisierenden Prosa die Sensationen des Alltags beschwört
— und in seinen Personen langsam zu sich kommt: Wir erleben
einen Mann, der sich mit seiner früheren Freundin in einem Café
trifft, sehen einem Lehrling über die Schulter, der seinen ersten
Arbeitstag antritt, und leihen einem alten Mann das Ohr, der von
einer unerhörten Begegnung an einer Bushaltestelle berichtet. Banales?
Literarische Bagatellen? Vielleicht, doch Miehe will mehr
und bilanziert zwischen den Zeilen Biografisches, so etwa, wenn
es eingangs der Titelerzählung heißt: „Die ersten fünf Jahre seines
Lebens hatte er in W gelebt, einer Kleinstadt, die von Fremden eher
für ein Dorf gehalten wurde … Er war fünf Jahre alt, als seine Mutter
mit ihm die Stadt verließ; er war ein kleiner Junge. Sein widerspenstiges
Haar wurde von der Mutter mit einer Haarklemme festgesteckt. Als er
merkte, daß sich seine Spielgefährten darüber lustig machten, ihn Mädchen
nannten, riß er die Haarklemme heraus und warf sie weg.“ Dies
alles vollzieht sich in Miehes Texten als scheinbar wenig Aufsehen
erregender Prozess einer fortschreitenden, insgeheim aber
sehr ambitionierten sprachlichen Reduktion; als ein Ringen um
Authentizität im Schreiben, bis sich das Gesehene oder Erlebte
in seiner Zuspitzung, ja, Verdichtung vor unseren Augen durch
die Sprache des Autors in Literatur verwandelt. Ulf Miehes erste,
auf das Herkommen aus Wusterhausen in der Mark Brandenburg
anspielenden Texte sind mehr als bloße Fingerübungen eines
ambitionierten Autors, der auf der Suche nach seinem Thema
ist; seine dreizehn Geschichten veranschaulichen vielmehr eindrucksvoll,
wie es einem noch jungen Autor offenbar auf Anhieb
gelingt, jenen „Morast von Empfindungen“ der eigenen Anfänge
hinter sich zu lassen — und eine eigene Erzählerstimme auszubilden.
Denn was Miehes stark autobiografisch gefärbte und wohl
nicht zuletzt an Böll oder Borchert geschulte Erzählungen von Anfang
an auszeichnet, ist ein eigener Ton; ein bei aller schwebenden
Grundstimmung zupackendes Erzählen und eine Stimme, die
ihre Charakteristik aus der Reibung mit Wirklichkeit bezieht, um
die es ihr geht. Kurz: Da wusste einer, wovon er schrieb; einer,
der realistische Literatur machen wollte.
[…]
Veröffentlicht in: Ulf Miehe, Puma. Mit Materialien zu Leben und
Werk, herausgegeben von Peter Henning, DuMont, Köln 2010
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