Ulf Miehe - Facetten eines Autors
Ulf Miehe – Facetten eines Autors ist der Versuch einer Biografie in Selbstzeugnissen und Dokumenten, die einen Überblick zu Leben, Persönlichkeit und Werk des Schriftstellers, Filmautors und Regisseurs Ulf Miehe (1940 Wusterhausen|Dosse – 1989 München) geben. Zitate verbinden sich mit Aussagen von Zeitzeugen, Interviews, Essays von renommierten heutigen Autoren und Bildzeugnissen. So entsteht ein facettiertes Bild von Ulf Miehes Denken und Schreiben. Durch das hier zusammengetragene Material eines kreativen Lebens voller Wendepunkte werden auch die gesellschaftlichen Spannungen thematisiert, aus denen ein knappes Werk seine große Lebendigkeit schöpft. Herausgegeben von Horst Kløver, Angelika Miehe und dem Wegemuseum Wusterhausen|Dosse.
Ulf Miehe – Facetten eines Autors ist der Versuch einer Biografie in Selbstzeugnissen und Dokumenten, die einen Überblick zu Leben, Persönlichkeit und Werk des Schriftstellers, Filmautors und Regisseurs Ulf Miehe (1940 Wusterhausen|Dosse – 1989 München) geben. Zitate verbinden sich mit Aussagen von Zeitzeugen, Interviews, Essays von renommierten heutigen Autoren und Bildzeugnissen. So entsteht ein facettiertes Bild von Ulf Miehes Denken und Schreiben.
Durch das hier zusammengetragene Material eines kreativen Lebens voller Wendepunkte werden auch die gesellschaftlichen Spannungen thematisiert, aus denen ein knappes Werk seine große Lebendigkeit schöpft.
Herausgegeben von Horst Kløver, Angelika Miehe und dem Wegemuseum Wusterhausen|Dosse.
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Der Autor Karl Wolfgang Flender
über Ich hab noch einen Toten
in Berlin
Der Text folgt einem Vortrag im Literaturhaus Berlin, gehalten am 17.Juni
2020. In Klammern stehen Textstellen aus der Erstausgabe von 1973, die
vom Schauspieler Nils Rech gelesen wurden und auf die sich der Vortrag
bezieht. Nach dem Vortrag wurde der Film Output gezeigt.
Als ich bei der Recherche meines Romans Helden der Nacht die Geschichte
des deutschen Kriminalromans durchforstet habe, war ich unendlich
froh, neben all dem bierernsten, schematischen Krimis, die dem miesen Ruf des
Genres gerecht werden, irgendwann Ulf Miehes Erstling Ich hab noch einen
Toten in Berlin zu finden. Krimi heißt ja leider viel zu oft: Die Autor*innen
meinen das wirklich ernst mit Mord, Totschlag und Ermittlung; alle hundert
Seiten ein neuer Toter, ein wenig Knistern zwischen Kommissar und Assistentin,
Dialoge zur Informationsvergabe wie im Tatort.
Sonst lasse ich Dürrenmatt und Fauser gelten, später noch Jakob Arjouni, aber
das Gros der deutschen Krimis sieht blass, verklemmt, provinziell aus, wenn man
die Maßstäbe etwa der New York-Trilogie von Paul Auster, Pynchons Inherent
Vice, den Neo-Noir von James Ellroy oder den Hardboiled eines Hammett
und Chandler an sie anlegt. Doch Miehes Ich hab noch einen Toten in Berlin
zeigt, dass sowas auch auf Deutsch möglich ist: dieser Sound, eine komplexe
Meta-Reflexion, die Kritik am Genre und dessen Innovation zugleich.
Ulf Miehe, 1940 geboren in Wusterhausen|Dosse, aufgewachsen an der Nordsee
und in Westfalen, beginnt während einer Buchhandelslehre auf den langen
Busfahrten in der ostwestfälischen Provinz zu schreiben, wird später Verlagslektor
und gelangt als Statist und Assistent zum Film. In München beginnt
er mit Regisseur Volker Vogeler Drehbücher zu schreiben, erst für Jaider, einen
kritischen Heimatfilm über einen Wilderer im Bayern, der 1970 beide im
Filmbetrieb etabliert, danach Verflucht dies Amerika, einen Western, um dann
einen Gangsterfilm in Berlin zu recherchieren, für den sich aber kein Geld zur
Produktion findet – und aus dessen Motiven Miehe stattdessen den Roman Ich
hab noch einen Toten in Berlin gemacht hat.
[Banküberfall-Szene: Seiten 7–11, Kapitelanfang bis: „Ist Ihnen schon einmal
aufgefallen, daß Geld und frisches Blut den gleichen Geruch haben?“]
Mit einer Banküberfall-Szene beginnt der Roman mit einer klassisch
gewordenen Trope des Hollywood-Kinos: Dem False-Open, der falschen Eröffnung,
die den Leser zunächst in die falsche Richtung lenkt, um dann das
Spiel mit der Fiktion aufzulösen. Damit ist schon das zentrale Thema des Romans
benannt: Der Widerstreit zwischen Wirklichkeit und Fiktion, die filmische
Wirklichkeit versus die Realität.
Miehe spielt in Ich hab noch einen Toten in Berlin durchgehend mit der Metafiktion:
Der Regisseur Gorski ist Volker Vogelers Alter Ego, der Ich-Erzähler,
ein Schriftsteller namens Benjamin, ist Ulf Miehes. Die Beschreibung Benjamins
stellt sich bei Vergleich mit Miehes Foto als Spiel mit der Selbstbeschreibung
heraus: „Rein äußerlich war wenig Bemerkenswertes an ihm, außer daß
er tagaus, tagein ein und dieselbe lederne Fliegerjacke trug und Cowboystiefel.
Er ist weder groß noch klein, eher mittelgroß und dünn mit einem Gesicht, das
nach Schädel- und Knochenstruktur eigentlich rund sein müßte, aber dazu ist
er zu mager. Straff gepolstert hätte sein Gesicht wahrscheinlich zufrieden ausgesehen.
Er trug eine Brille mit großen getönten Gläsern und dünnem Gestell.
Sie schien mir sorgfältig ausgesucht. Auf den ersten Blick machte er einen eher
schüchternen Eindruck; auch bewegte er sich wohl ein wenig linkisch. Ich glaube
nicht, daß dieses Verhalten kalkuliert war.“(1)
Als Arbeitshypothese soll deshalb gelten: Ich hab noch einen Toten in Berlin
kann als Schlüssel dafür gelesen werden, wofür sich der Autor und Filmemacher
Miehe interessiert, wie er recherchiert, arbeitet, Texte schreibt. Wenn man Benjamin
zusieht, sieht man Miehe zu.
50
Nach Abschluss der Dreharbeiten in der Bank fahren Schriftsteller
Benjamin und Regisseur Gorski ins geteilte Berlin, weil dort ein alter Bekannter
aus dem Milieu einen heißen Tipp für ihre nächste Drehbuchstory
haben soll. Der Mann heißt Horst Sparta, ein Ganove aus der Kleinstadt,
der sich zum Gangsterboss hochgearbeitet hat. Ein Ehrenmann, der zwar ab
und zu Leute umlegt, aber Zuhälterei ablehnt, weil es sich nicht richtig anfühlt,
moralisch. Benjamin hat Sparta vor Jahren kennengelernt, nachdem er
eine satirische Kurzgeschichte veröffentlichte, die klingt wie ein Aufsatztitel
von Niklas Luhmann, „Die Alarmanlage der Alarmanlage der Alarmanlage“,
und darin durch Zufall exakt die Technik beschrieb, mit denen Sparta und
Konsorten reihenweise Banktresore leermachten – worauf Sparta ihn hopsnahm,
und die beiden sich anfreundeten.
Von ihm erhoffen sich Gorski und Benjamin eine gute Story für ihren
nächsten Film. Ihr erklärtes doppeltes Ziel dabei lautet: „eine überzeugende
realistische Geschichte“ zu erzählen, die „nach allen Regeln der Logik
und der Verhältnisse möglich sein sollte“ und „etwas, was wir nicht schon
in amerikanischen oder französischen Gangsterfilmen gesehen hatten“. (2)
Und das ist auch Miehes ehrgeiziges Vorhaben mit diesem Buch: Die Entmiefung
des deutschen Kriminalromans, der in Deutschland immer noch
in konservativen Nachkriegs-Mustern vor sich hinsiecht oder sich didaktischer
linker Sozialkritik verschrieben hat.
Deutschland hat tatsächlich einiges nachzuholen. Die Hardboiled fiction
erreicht Deutschland auf breiter Basis erst mit Jahrzehnten Verspätung in
den 70er Jahren. So erschienen Der Malteser Falke von Dashiell Hammett
und Raymond Chandlers Der große Schlaf erst 1974. Letzterer wird zwar
schon 1950 im kleinen Nest Verlag zum ersten Mal übersetzt, entwickelt
aber erst eine Breitenwirkung im Publikumsverlag Diogenes. In Frankreich
hat sich da längst der Film noir etabliert mit Regisseuren wie Melville, die
Deutschen dagegen schauen brave Edgar-Wallace-Verfilmungen: Tatort
und Der Kommissar sind zu diesem Zeitpunkt sogar noch die innovativsten
Crime-Formate und erst wenige Jahre alt.
Miehe fasst es in einem Brief zusammen: „Der deutsche Krimi, den es ja
angeblich geben soll, hat mir meistens zu viel anspruchsverblasenes Problemgetue,
da wird Sozialkritik mit Handlung verbunden und vor allem
angeprangert statt erzählt. Eine sehr bemühte Angelegenheit, übrigens auch
sprachlich, weswegen das meiste schlicht ungenießbar ist.“ (3)
Dürrenmatt hat zwar in den 50ern seine hochintelligenten Meta-Kriminalromane
geschrieben, mit dem ihm eigenen schweizerisch-trockenen Humor,
aber die waren doch immer im Bürgertum angesiedelt, nicht lebenssatt
von unten und mit der Härte des Milieus erzählt.
In diese Zeit hinein schreibt Miehe einen Kriminalroman nach dem Vorbild
der Noir-Filme von Melville. Noir heißt: Einsame Männer sind geworfen in
eine verfallende Welt ohne Zentrum, Weisheit und Gerechtigkeit, die Polizei
ist korrupt, sinnlose Gewalt kann jederzeit jeden ereilen, die Großstadt
ist ein feindlicher Ort, in der man niemandem vertrauen kann, vor allem
nicht den blonden Frauen, die meist als Femme fatale auch noch sterben
müssen. Kurz: „Die Welt ist nicht nur böse, geldgierig und korrupt, sondern,
was noch viel schlimmer ist, sie ist sinnlos, chaotisch, nicht erklärbar.“
(4)
Zwar ist Ich hab noch einen Toten in Berlin „[…] nur ein Krimi.
Erwarte nichts“ (5), wie Miehe in einem Brief an seinen Freund Rolf
Dieter Brinkmann bescheiden ankündigt, aber er stellt sich als einer heraus,
der die Kriminalliteratur in Deutschland revolutioniert. Das Buch wird vom
Feuilleton begeistert begrüßt, endlich ein Krimi, der es mit den Franzosen
oder US-Amerikanern aufnehmen kann in Spannung, Milieuzeichnung
und Ton – er verkaufte sich wohl über 300000 Mal. Er sticht mit seinem
lässigen Sound mitten in die vergiftete bürgerliche Moral der 70er, er ist
hart, schnell, auf der Höhe der Zeit, mit coolen Figuren nach dem Vorbild
der Rollen eines Lino Ventura.
Es ist also Miehe, der den Deutschen als Erster den Hardboiled nahebringt,