bull_03_06_Luxus
Credit Suisse bulletin, 2003/06
Credit Suisse bulletin, 2003/06
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LUXUS<br />
Foto: Annemarie Oechslin<br />
«Ich habe schon als Kind vom Meer geträumt.» Fernweh – das<br />
ist an sich nichts Aussergewöhnliches. Willy Beeler, heute 36 Jahre<br />
alt, hat dieser Wunsch jedoch mehrmals um den Globus geführt.<br />
Vorzugsweise auf dem Seeweg. Tahiti, Neuseeland, Neukaledonien,<br />
Australien, Indonesien, Singapur, Malaysia, die Karibik,<br />
Hawaii, Tonga – die Liste seiner Destinationen liesse sich fast<br />
beliebig erweitern. Die Liste seiner Abenteuer ebenfalls. Beeler<br />
erzählt von einer Transatlantiküberquerung, auf der sich das Segelschiff<br />
bei stürmischer See langsam mit Wasser gefüllt habe. Er<br />
erzählt von einem langen Winter in Alaska. Fünfzig Grad unter Null<br />
sei es dort gewesen. So kalt, dass man mit nacktem Oberkörper<br />
aus der Hütte könne. «Du frierst nur kurz. Dann hat die Kälte die<br />
Nerven betäubt. Bald darauf bist du allerdings auch schon erfroren.»<br />
Zwischen den Reisen zieht es den Bergbauernsohn zurück an den<br />
heimatlichen Herd. Im Schilstal, in den Flumserbergen, greift er dem<br />
Vater unter die Arme oder arbeitet als Skilehrer. Bis es ihn wieder<br />
wegzieht. Für diese Unabhängigkeit hat Willy Beeler viel aufgegeben.<br />
«Ich bin arm an Besitz, dafür reich an Geschichten. Und ich bin<br />
mein eigener Herr und Meister. 1999 habe ich den grossen Schritt<br />
gemacht und alles, was ich nicht direkt zum Überleben brauche,<br />
losgeschlagen. Die Möbel, das Auto, die Wohnung. Sogar die Pensionskasse<br />
habe ich aufgelöst. Ich habe keine Familie zu ernähren<br />
und praktisch keine Verpflichtungen zu erfüllen. Und so kann ich<br />
es mir leisten, mir nichts zu leisten. Mein grösstes Vermögen ist in<br />
meinem Kopf und was ich sonst noch besitze, trage ich praktisch am<br />
Leib.» Erinnerungen statt Besitztümer. Der Entscheid habe sich<br />
gelohnt. In jeder Hinsicht. Das Reisen habe Spuren hinterlassen.<br />
«Nicht nur im Kopf, sondern auch unter der Haut», fügt Willy Beeler<br />
augenzwinkernd hinzu.<br />
Es geschah in Samoa<br />
In der Tat: Beelers Körper erzählt eine eigene Geschichte vom<br />
Reisen und von Abenteuern. Eine Geschichte in Bildern: Von den<br />
Hüften abwärts bis zu den Knien hat sich Beeler ein Pea unter die<br />
Haut hämmern lassen – eine samoanische Stammestätowierung.<br />
«Alles begann in Upolu – auf einer der schönsten Inseln, die es gibt.<br />
Hier sah ich den ersten traditionell tätowierten Samoaner. Sein Tattoo<br />
war fantastisch. Da habe ich mir sofort gesagt: Willy, das musst du<br />
auch haben.»<br />
Es dauerte ein Weilchen, bis die Samoaner das Ansinnen Beelers<br />
ernst nahmen. Die Tataus, wie sie in Samoa genannt werden, zeigen<br />
die Herkunft des Besitzers an und widerspiegeln sein Schicksal. Nach<br />
samoanischem Glauben ist das Einhämmern eines Pea Initiation und<br />
Wiedergeburt zugleich – das unumstössliche Zeichen, dass ein Mann<br />
zum Krieger gereift ist. Das geht man nicht leichtfertig an. Aber<br />
schliesslich habe der Tätowiermeister eingelenkt. «Fast alle Dorfbewohner<br />
haben mir allerdings davon abgeraten. Der Schmerz werde<br />
mich um den Verstand bringen, werde mich abhängig machen wie<br />
ein Baby. Was wisst ihr schon, habe ich mir gedacht. Der Atlantik<br />
hat mich nicht umgebracht, in Alaska habe ich dem Winter getrotzt,<br />
da schaff ich auch das. Heute muss ich sagen: Ich war naiv.»<br />
Die Haut steht in Flammen<br />
Die Tattoo-Sitzungen dauerten elf Tage – inklusive 48 Stunden<br />
Pause. Morgens und nachmittags hämmerte der Tätowiermeister –<br />
die Einheimischen nennen ihn Tafuga – mit Hilfe spitz geschliffener<br />
Eberzähne Willy Beeler jeweils drei Stunden lang eine Mischung aus<br />
schwarzem Russ, Wasser und einer Paste aus Früchten des Lamabaumes<br />
unter die Haut. Eine blutige Angelegenheit. «Nach den<br />
ersten Schlägen habe ich gedacht: Unmöglich, das hältst du nicht<br />
aus. Die Schmerzen waren unglaublich. Aber wenn du erst einmal<br />
angefangen hast, musst du auch weitermachen. Sonst bringst du<br />
Schande über das ganze Dorf.»<br />
Er habe während dieser Zeit kein Auge zugemacht. Seine Haut<br />
schien in Flammen zu stehen. Die hygienischen Verhältnisse in<br />
der Hütte des Tafuga waren alles andere als gut und die frischen<br />
Wunden entzündeten sich. Nun quälten Willy Beeler auch noch<br />
Fieberschübe. «Ich war vom ersten Tag an rund um die Uhr wach.<br />
So hat es sich zumindest angefühlt. Alles tat weh, meine Muskeln<br />
wurden hart, meine Gelenke versteiften sich. Ich war wach und doch<br />
irgendwie im Koma. Aber so ist das halt beim Stechen eines Pea.<br />
Deshalb bekommt man auch einen Helfer zur Seite gestellt. Einen<br />
persönlichen Schutzengel. Er ist die ganze Zeit über für mich da<br />
gewesen. Tag und Nacht hat er meinen Zustand beobachtet, nicht<br />
einmal auf die Toilette liess er mich alleine gehen.»<br />
Während Beeler im Fieberdelirium davon träumte, sich die Haut<br />
abzustreifen, wuchs das Tattoo auf seinem Körper weiter. Ein fliegender<br />
Fuchs, Symbol des Lebens, gesellte sich zu Ottern, zu Vögeln,<br />
Fledermäusen, Speerspitzen und Tintenfischen. Schliesslich wurde<br />
das letzte Teil des Pea um den Bauchnabel herum gestanzt. «Für die<br />
Einheimischen ist das der Moment der Wiedergeburt.»<br />
Hätte er damals gewusst, wie schmerzvoll das Ganze werden<br />
würde, er hätte nicht ja gesagt. Andererseits gebe es nichts zu<br />
bereuen. Sein Leben habe sich schon verändert. Alles sei leichter<br />
geworden. «Die meisten glauben, sie können ihrem Leben durch<br />
<strong>Luxus</strong> Sinn verleihen. Doch wie lange hält die Freude über ein neues<br />
Auto, einen schnellen Computer an? Schon bald willst du etwas<br />
Neues, etwas Besseres. Ein Leben jenseits der Trampelpfade, sein<br />
eigener Herr zu sein, zu einem Pea ja zu sagen und sich nicht<br />
um die Konsequenzen zu Hause oder auf der Arbeit kümmern zu<br />
müssen – das ist für mich echter <strong>Luxus</strong>. Ein <strong>Luxus</strong>, den man sich<br />
leisten, aber eben nicht kaufen kann.»<br />
❙<br />
3 Mehr Beeler’sche Abenteuer und Fotos unter www.credit-suisse.com/emagazine<br />
Credit Suisse Bulletin 6-<strong>03</strong> 17