Nr. 83 - Sommer 2022

Von « VIP-Zellen » zur unbewohnten Abtei
Die Praxis, Gegner der Staatsgewalt und unerwünschte
Politiker in der Abtei einzusperren, stieß auch bei den
Nachfolgern Ludwigs XI. auf Interesse. Das Vorgehen
war sehr « praktisch » und es bürgerte sich daher ein, dass
in den Wohnräumen der Abtei einige « VIP-Zellen » für
« Pensionsgäste des Königs » reserviert waren. Letztere
waren meist aus gutem Hause und wurden ohne Verurteilung,
lediglich auf Wunsch des Königs, dort eingesperrt.
Manchmal ging die Initiative auch von Standesgenossen
oder Familienmitgliedern aus, die Personen auf diese Weise
« aus persönlichen Gründen aus dem Verkehr ziehen »
wollten. Der Auslöser war oftmals relativ unbedeutend,
teilweise handelte es sich lediglich um einen Sittenskandal.
Selbstverständlich waren die Zellen dieser Inhaftierten
nicht mit denen politischer Häftlinge vergleichbar.
Da die Mönche in solchen Fällen einen höheren Betrag
erhielten, war die Unterbringung ziemlich komfortabel,
was den Aufenthalt für die Betroffenen « angenehmer »
machte. Dennoch reichte das durch diese Tätigkeit erzielte
Einkommen nicht aus, um den Finanzbedarf der Abtei
zu decken, deren glanzvolle Ausstrahlung mehr und mehr
verblasste. Umso mehr, als zu Beginn der Französischen
Revolution, 1789, nach einhelliger Meinung der Historiker
nur noch schätzungsweise sechs bis zwölf Gefangene
auf dem Mont Saint-Michel eingesperrt waren. Für den
Orden, der bereits mehr als 1000 Jahre dort lebte, begann
damals eine schreckliche Zeit. Am 2. November 1789
beschloss die konstituierende Nationalversammlung die
Verstaatlichung der Kirchengüter, und am 13. Februar
1790 wurden Orden ganz verboten, die Mönche aus ihren
Klöstern verjagt. Auch auf dem Klosterberg mussten die
letzten Geistlichen die Abtei verlassen.
Frankreich erleben · Sommer 2022 · 29