neue perspektiven? kreative kammerpunkte?
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Systemische Therapie/Familientherapie<br />
Jochen Schweitzer 1 , Stefan Beher 2 , Kirsten von Sydow 3 , Rüdiger Retzlaff 4<br />
1 Institut für Medizinische Psychologie, Universitätsklinikum Heidelberg<br />
2 Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld<br />
3 Psychologisches Institut, Universität Hamburg<br />
4 Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie, Universitätsklinikum Heidelberg<br />
Zusammenfassung: Die Systemische Therapie/Familientherapie hat sich in einer<br />
inzwischen fünfzigjährigen Entwicklungsgeschichte zu einem breit angelegten psychotherapeutischen<br />
Grundlagenverfahren entwickelt. Der Aufsatz bietet einen sehr<br />
kompakten Überblick über die systemtheoretischen Grundlagen, die therapeutischen<br />
Haltungen, das Störungskonzept, die Interventionsmethoden, Überlegungen zu Indikation<br />
und Kontraindikation, Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit, und die<br />
Versorgungsrelevanz der Systemischen Therapie/Familientherapie. Er schließt mit einer<br />
Zukunftsvision darüber, wie die Integration der Systemischen Therapie/Familientherapie<br />
in die kassenfinanzierte Psychotherapie deren Versorgungsqualität in einigen<br />
wichtigen Aspekten weiter verbessern könnte.<br />
1. Theoretische Grundlagen<br />
1.1. Systemische Therapie –<br />
Familientherapie: Zum<br />
Verhältnis der beiden<br />
Begriffe<br />
Die Systemische Therapie/Familientherapie<br />
ist in den Jahren 1970-1980 als eigenständiges<br />
Therapieverfahren aus der klassischen<br />
Familientherapie hervorgegangen<br />
und hat über den Paar- und Familienkontext<br />
hinaus auch in vielen anderen<br />
psychotherapeutischen Settings wie Einzel-<br />
und Gruppentherapie Einzug gehalten.<br />
Familientherapie bezeichnet ganz allgemein<br />
einen therapeutischen Rahmen, in<br />
dem mit Hilfe der Familienmitglieder gemeinsam<br />
nach Lösungen für ein Gesundheits-<br />
oder Beziehungsproblem eines oder<br />
mehrerer Patienten gesucht wird. Der Begriff<br />
„Familientherapie“ allein setzt dabei<br />
noch keine spezifische theoretische Orientierung<br />
voraus. Bereits „Familie“ wird<br />
heute weiter gefasst und nicht mehr nur<br />
4<br />
in einem biologischen oder juristischen<br />
Sinn verstanden: Stierlin (2005) spricht<br />
vom „existentiell bedeutsamen Beziehungssystem“,<br />
das alle vom Problem des<br />
Patienten mit betroffenen, ihm nahe stehenden<br />
und an seiner Lösung interessierten<br />
Menschen umfasst.<br />
Systemische Therapie/Familientherapie<br />
bezeichnet ein von anderen Therapieschulen<br />
methodisch klar abgrenzbares,<br />
systemtheoretisch fundiertes, eigenständiges<br />
Therapieverfahren. Systemisches Denken<br />
versucht das Verhalten von Elementen<br />
nicht isoliert aus deren inneren Eigenschaften,<br />
sondern aus ihren Beziehungen<br />
untereinander und zu ihrer Systemumwelt<br />
zu erklären. Für die Psychotherapie<br />
bedeutet dies, dass psychische Störungen<br />
und Strukturen ebenso wie psychotherapeutische<br />
Behandlungsphänomene –<br />
etwa Behandlungsmotivation, Widerstand,<br />
Behandlungsabbrüche – nicht als in einem<br />
Systemmitglied (dem Patienten) lokalisierte<br />
Phänomene betrachtet werden,<br />
sondern als interaktionell (zwischen Patient,<br />
Familie, Behandlern und Sozialver-<br />
sicherungssystemen) erzeugte Gemeinschaftsleistungen.<br />
Systemische Therapie/Familientherapie bietet<br />
im Dialog der Therapieschulen viele<br />
integrative Anknüpfungspunkte. Im angelsächsischen<br />
Sprachraum schließt „Family<br />
Systems Therapy“ Möglichkeiten der punktuellen<br />
Integration psychodynamischer,<br />
behavioraler und humanistischer Methoden<br />
stets mit ein.<br />
1.2. Entwicklungsgeschichte der<br />
Systemischen Therapie/<br />
Familientherapie<br />
Für die Systemische Therapie/Familientherapie<br />
waren statt einer zentralen Gründerfigur<br />
viele charismatische „Urväter und<br />
Urmütter” in der Pionierphase prägend.<br />
Die frühen Abgrenzungskonflikte zwischen<br />
verschiedenen systemtherapeutischen<br />
Richtungen erscheinen heute als unterschiedliche<br />
Entwicklungsphasen, deren<br />
bewährte Elemente in der Praxis meist integriert<br />
werden und zum gemeinsamen<br />
Grundbestand Systemischer Therapie/<br />
Familientherapie gehören (Nichols &<br />
Schwartz, 2004; v. Schlippe & Schweitzer,<br />
1996; v. Sydow, 2005).<br />
1. Die Mehrgenerationenperspektive betrachtet<br />
klinische Probleme bevorzugt<br />
aus der Perspektive ungelöster familiärer<br />
Vermächtnisse und Loyalitäten, unzureichender<br />
Selbst-Differenzierung<br />
(Bowen, 1975), überfordernder familiärer<br />
Delegationen (Stierlin, 1978) sowie<br />
unausgeglichener „Schuld- und<br />
Verdienstkonten“ zwischen Generatio-<br />
Psychotherapeutenjournal 1/2007