2015-04
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Gesundheit<br />
Mein Rollator<br />
eine praktisch-philosophische Betrachtung<br />
Es war kurz vor Silvester 2014. Schmerzen kannte ich<br />
schon länger auf Grund einer Spinal- Kanal- Stenose.<br />
An diesem Tag übertrafen sie alles bis dahin Gewesene.<br />
Sie waren auch anders. Ein späteres Röntgenbild<br />
zeigte Beckenrandfrakturen. Diese waren zwar inzwischen<br />
verheilt. Aber die Bruchteile hatten nicht korrekt zueinander<br />
gefunden. Ich konnte nicht mehr laufen. Ein Trauma,<br />
da es nie mehr anders werden würde. Die Nachricht ähnelte<br />
einem Computerabsturz. Das Leben vorher, mit all seiner<br />
Lebensfreude, war gelöscht. Es blieben nur ein paar Splitter,<br />
die ich mühsam zusammen zu setzen versuchte.<br />
Ich musste mich an den Gedanken einer Gehhilfe gewöhnen.<br />
Das Thema ist zwar banal aber Welten umspannend.<br />
Ich orderte einen Rollator. Das Krankenhausmodell<br />
war hässlich und klobig, sehr schwer, ich besorgte mir einen<br />
aus privater Hand. Da stand er nun, leider Mittelpunkt<br />
meines Lebens. Ich betrachtete ihn mit Ablehnung. Oft<br />
beschlich mich das Gefühl: „Der gehört doch nicht zu mir,<br />
er ist völlig fremd bestimmt.“ Ich stolperte über ihn, blieb<br />
hängen, lange Kleider verfingen sich in seinen Rädern.<br />
Er ist eine schwedische Erfindung. Zuerst als Dreirad<br />
konzipiert, wechselte die Firma später über zum Vierrad. Ich<br />
wollte schon eine Idee als Patent anmelden – mir schwebte<br />
ein Regenschirm am Rollator vor – rechtzeitig erfuhr ich aber,<br />
dass es dieses Luxusmodell schon gibt, sogar mit Beleuchtung.<br />
Ich musste lernen, mit ihm umzugehen. Es bedarf einer<br />
aufrechten Haltung und einer Fortbewegung zwischen den<br />
Rädern. Viele Betroffene laufen hinter den Rädern und strecken<br />
ihr Hinterteil in die Luft, sie stolpern und fallen. Einmal<br />
versuchte ich, ihn als Unterstand zu benutzen. Ich wollte eine<br />
Birne auswechseln. Kniete auf seiner Sitzfläche und vergaß,<br />
die Bremsen anzuziehen. Er rollte davon, und ich fiel. Der<br />
rechte Unterschenkel wies keine Haut mehr auf, und es dauerte<br />
Monate, bis die Riesenwunde abgeheilt war. Ansonsten<br />
ist der Rollator sehr vielseitig. Ich benutze ihn als Servierwagen,<br />
wenn ich mein Abendessen in den anderen Raum vor<br />
das Fernsehen fahre oder Gegenstände wegräumen möchte.<br />
Es gibt eine Sitzfläche mit Rückenlehne, ich kann unterwegs<br />
ausruhen. Unter der Sitzfläche ist ein Korb anzubringen, in<br />
dem ich Einkäufe verstauen kann, und er lässt sich zusammen<br />
falten und so im Auto unterbringen.<br />
Eine Vielzahl der Betroffenen wehren sich gegen einen<br />
Rollator, ihr Stolz lässt es nicht zu. Manche benutzen ihn aber<br />
auch als Status- Symbol, nur um zu zeigen, wie bedürftig sie<br />
sind. Mit dem Stolz und der Scham ging es mir genauso. Auf<br />
der Straße, unter fremdem Menschen, hat es mich nie tangiert,<br />
aber unter Bekannten hatte ich ein Problem, weil ich die anfängliche<br />
Betroffenheit in ihren Gesichtern lesen konnte. Einer<br />
guten Freundin von mir fällt es schwer, mich zu besuchen,<br />
sie hatte sich mein Altern anders vorgestellt. Und ich erst!<br />
Foto: Rita Petri<br />
Hier geht's nicht weiter<br />
Ich kaufte mir einen eleganten Stock, noch trägt er mich<br />
nicht weit, aber ich hege immer die Hoffnung. ... Früher<br />
dachte ich immer, Menschen, die am Stock gehen, müssen<br />
bestimmte Eigenschaften besitzen, negative natürlich, als da<br />
sind: Herrschsucht, Starrsein, Autorität, die Geste entspricht<br />
ihrem Gesichtsausdruckt. Wahrscheinlich dachte ich an alte<br />
Filme, in denen man den Patriarch schon von weitem näher<br />
kommen hört. Er setzt den Stock fest auf und bewegt sich<br />
mit Trippelschrittchen Die Geste entspricht ihrem Gesichtsausdruck.<br />
Nun kann ich bei mir selber schauen.<br />
Ich nehme jetzt Heerscharen von Rollatorinnen in den<br />
Straßen wahr, überwiegend Frauen, das ist mir früher nicht<br />
so aufgefallen. Ich wage eine zynische Bemerkung: Vielleicht<br />
sollte ich eine Selbsthilfegruppe für Rollatorinnen<br />
einrichten oder gar für eine olympische Disziplin trainieren<br />
Für einen Menschen mit Behinderung verengen sich die<br />
Perspektiven. Das Ungleichgewicht zwischen gelebter und<br />
noch verbleibender Zeit macht melancholisch. Die Welt um<br />
mich herum zieht sich zusammen, ich muss überwiegend<br />
aus mir selbst heraus leben. Das wenige an Beweglichkeit,<br />
welches mir der Rollator ermöglicht, scheint auch meine geistige<br />
Beweglichkeit zu verringern. Ich finde keinen Zugang<br />
mehr zu meiner Kreativität. Dabei hatte ich gehofft, ich könne<br />
noch Großes erreichen, Viele Künstler hatten fruchtbare<br />
Schaffensperioden, wenn das Leid sehr groß war.<br />
Unter Behinderung verstehe ich in diesem Essay nur das<br />
„nicht laufen können.“ Was meine Gefühle angeht, habe ich<br />
nur an der Oberfläche gekratzt, sonst wäre der Artikel zu<br />
persönlich geworden. Ich wünsche allen Rollstuhlfahrerinnen<br />
und -fahrern, trotz aller Beschwerlichkeiten, ein frohes<br />
Rollen durch das Leben.<br />
Erika Krumm<br />
4/<strong>2015</strong> durchblick 41