ultreïa - Schweizerischen Vereinigung der Freunde des Jakobsweges
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ULTREÏA No 48 - Nov 2011<br />
PILGERN UND TIERE<br />
Eine Kobra im Schweizer Wald?<br />
Ich quäle mich einen breiten, weis- Ich gehe alle Schlangen durch, die<br />
sen Kiesweg den Wald hinunter. ich kenne, denn ich war wegen mei-<br />
Plötzlich, nur einen Meter vor mir, ner Phobie schon öfters auf Schlan-<br />
bewegt sich etwas. Wie angewurgenfarmen in Asien und auch in<br />
zelt und ohne zu atmen, bleibe ich den Terrarien diverser Zoos. Eine<br />
stehen und nehme eine Schlange Blindschleiche, Ringelnatter o<strong>der</strong><br />
wahr. Mir gefriert das Blut in den Kreuzotter kann es nicht sein, soviel<br />
A<strong>der</strong>n, mein Hirn ist ausgeschaltet, war klar. Der erhobene breite Kopf<br />
bewegungslos verfolge ich den Weg <strong>der</strong> schlammgrünen Schlange lässt<br />
dieses Lebewesens, das mich in mich das Undenkbare befürchten.<br />
Angst versetzt. Ein Horrorszenario Es kann nur eine Kobra gewesen<br />
erfüllt sich. Vor nichts in <strong>der</strong> Welt sein. Ich bin mir meiner Diagnose<br />
habe ich Angst, vor keiner Situati- vollkommen sicher, kann aber keion,<br />
vor keinem Menschen, vor keine Verbindung zu Schweizer Wälnem<br />
Tier ausser diesem, <strong>der</strong> Schlan<strong>der</strong>n finden. Kurze Zeit glaubte ich<br />
ge. Da das Denken ausgeschaltet ist gar, eine Halluzination habe mich<br />
und ich wie blockiert dastehe, ver- heimgesucht. Dann wie<strong>der</strong> denke<br />
folge ich mit Adlerblick, wie dieses ich: es ist ein Zeichen von oben.<br />
beinlose Lebewesen ungewöhnlich<br />
langsam über den Weg schlängelt,<br />
wobei es den Kopf, im Gegensatz<br />
zum Körper, hoch erhoben, also<br />
vertikal, hält. Intuitiv spüre ich<br />
die Gefahr in diesem Augenblick.<br />
Zu meinem Entsetzen verschwindet<br />
die Schlange aber nicht ganz im<br />
hohen Gras; ihr Schwanzende ist<br />
noch sichtbar. Ich warte, aber die<br />
Schlange rührt sich nicht. Es beunruhigt<br />
mich, dass ich ihren breiten,<br />
fremdartigen Kopf nicht ausmachen<br />
kann. Mein Hirn durchblutet<br />
sich in Sekundenschnelle. Einmal<br />
tief durchatmen, dann sprinte ich<br />
vorbei. Obwohl ich extra fest auftrete,<br />
verharrt sie weiter in ihrer bewegungslosen<br />
Stellung und lässt sich<br />
durch die Vibrationen nicht verjagen,<br />
wie ich durch einen kurzen<br />
Blick zurück bemerke.<br />
In sicherer Distanz beginne ich nun<br />
die eben erlebten, unglaublich anmutenden<br />
Bil<strong>der</strong> zu analysieren.<br />
Mein Hirn läuft auf Hochtouren.<br />
Während ich so vor mich hin sinniere<br />
und mir die Bedeutung <strong>des</strong><br />
Rätsels zu erklären versuche, komme<br />
ich an einem Betonbau mit dem<br />
Schild „Vivarium“ vorbei. Bei genauerem<br />
Hinschauen sehe ich auf<br />
<strong>der</strong> Hausfassade neben dem Eingang<br />
die Umrisse einer mächtigen<br />
Python. Nochmals überfällt mich<br />
ein kalter Schauer. Es war doch eine<br />
Kobra! Sie muss aus ihrem Gefängnis<br />
ausgebrochen sein.<br />
Noch unzählige Male sollte ich später<br />
diese unglaubliche Geschichte<br />
erzählen. Drei Wochen später erzählt<br />
mir meine Mutter am Telefon,<br />
in <strong>der</strong> Zeitung habe sie gelesen,<br />
in <strong>der</strong> Nähe von Lausanne sei eine<br />
Kobra ausgebrochen… Nun fühle<br />
ich mich wie neugeboren, denn es<br />
ist ja nicht alltäglich, dass man die<br />
Begegnung mit einem so gefährlichen<br />
Tier in freier Wildbahn überlebt.<br />
Sicherlich wäre es ein aussergewöhnlicher<br />
Tod gewesen: ein<br />
Kobrabiss auf dem Jakobsweg in<br />
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