Jahresbericht 2010/2011 - EMW

Die Evangelische Brüder-Unität
und die Charismatisierung
In Tansania wächst die Herrnhuter Brüdergemeine
(Moravian Church) rapide. Die derzeit
vier Kirchenprovinzen haben in Tansania selbst
und in seinen Nachbarländern eine ganze Reihe
von Missionsprovinzen gegründet. Sowohl
die bestehenden Kirchenprovinzen als auch
die neuen Missionsprovinzen sind mehr oder
weniger stark charismatisiert. Die Missionsprovinzen
wollen nun so schnell wie möglich
Kirchenprovinzen mit allen Rechten werden.
Das könnte für die weltweite Brüder-Unität
insofern zum Problem werden, da dies auch
das Stimmrecht in den internationalen Gremien
beinhaltet und sie künftig alle Abstimmungen
dominieren könnten. Wo das Problem ihrer auf
Erweckung und Erneuerung ausgerichteten
Frömmigkeit liege, fragen die tansanischen
Herrnhuter. Ist die Brüdergemeine nicht aus
einer Erweckung entstanden? Pfarrer Frieder
Vollprecht, Mitglied der Direktion der Europäisch-Festländischen
Provinz der Brüder-Unität,
begründet, warum seine Kirche vom Ursprung
her nicht charismatisch ist.
Einer geistlichen Erweckung verdankt die Evangelische
Brüder-Unität (Herrnhuter Brüdergemeine) ihre Entstehung
in entscheidendem Maße. In dem 1722 neu gegründeten
Ort Herrnhut hatten sich nicht nur Glaubensflüchtlinge
aus Mähren niedergelassen, sondern auch andere Menschen
mit sehr unterschiedlichen Glaubensausprägungen.
Dies musste zwangsläufig zu inneren Spannungen führen.
Sie wurden durch intensive seelsorgerliche Bemühungen
des Grafen Zinzendorf, durch gezielte Maßnahmen für einen
geordneten Gemeindeaufbau, letzten Endes dann aber
durch die Gemeinschaftserfahrung bei einer Abendmahlsfeier
am 13. August 1727 im benachbarten Berthelsdorf
überwunden. Dieses Datum gilt bis heute als die Geburtsstunde
der Erneuerung der Brüder-Unität nach dem Abbruch
ihrer 200-jährigen Geschichte im heutigen Tschechien
infolge des 30-jährigen Krieges.
Die Erfahrung des 13. August 1727 wird in der Literatur
häufig so dargestellt, als würde sie auf einer Linie liegen
mit fundamentalen Erfahrungen des Wirkens des Heiligen
Geistes, die später zur Herausbildung der modernen charismatischen
Bewegung geführt haben. Doch ist dies nur
sehr bedingt der Fall. Zinzendorf und seine Mitarbeiter
haben das Ereignis relativ zurückhaltend und nüchtern
interpretiert. Themen, die für die Theologie der heutigen
charismatischen und neo-pentekostalen Bewegung zentral
sind (Geistestaufe, Sprachengebet, Glaubensheilung, Prophetie),
spielen in der Brüdergemeine der Zinzendorfzeit so
gut wie keine Rolle. In Zinzendorfs Theologie liegt ein sehr
viel stärkerer Nachdruck auf der persönlichen Verbundenheit
der einzelnen Gläubigen mit dem Heiland und auf der
dadurch entstehenden Gemeinschaft als auf Manifestationen
des Heiligen Geistes.
Wenn es im 18. Jahrhundert überhaupt eine Bewegung gibt,
die mit der späteren charismatischen Bewegung vergleichbar
ist, dann sind es nicht die Herrnhuter, sondern die
so genannten „Inspirierten“. Gerade mit ihnen aber hatte
Zinzendorf selbst auch größte theologische Schwierigkeiten
und Differenzen. Die Auseinandersetzung mit ihren
Positionen (Johann Friedrich Rock, Johann Konrad Dippel)
führt ihn zu einer umso stärkeren Konzentration auf Luthers
Kreuzestheologie.
So bleibt an dieser Stelle festzuhalten: Die Herrnhuter Brüdergemeine
ist von ihrem Ursprung und Wesen her keine
charismatische Kirche im heute gebräuchlichen Sinne des
Wortes, auch wenn in der Gegenwart in vielen ihrer 25
Kirchenprovinzen weltweit mehr oder weniger starke Einflüsse
durch die charismatische Bewegung zu verzeichnen
sind. | Frieder Vollprecht
EMW-Jahresbericht 2010/2011 | 13