Jahresbericht 2010/2011 - EMW
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Charismatisierung in afrikanischen Kirchen<br />
könnten, wird also unter pfingstlichen Pastoren durchaus<br />
kontrovers diskutiert. Das wäre ein weiterer Anknüpfungspunkt<br />
für den theologischen Austausch zwischen den etablierten<br />
Großkirchen und den Pfingstkirchen. Schließlich ist<br />
das Wohlstandsevangelium ein Reizthema, um das gestritten<br />
werden muss. Vertreter westlicher Großkirchen werfen<br />
neo-pentekostalen Kirchenführern vor, sich durch die<br />
Spenden von armen Menschen in Afrika zu bereichern und<br />
halten diese Praxis für einen Skandal. Mit dem Spenden, so<br />
dagegen Anhänger des Wohlstandsevangeliums, verhalte<br />
es sich wie in der Landwirtschaft: Wer großzügig spende,<br />
werde reichen Erntesegen einfahren.<br />
Auf den Vorwurf der unrechtmäßigen Bereicherung nahm<br />
Enoch Adeboye, Spitzenpastor der Redeemed Christian<br />
Church of God, Bezug: Ein amerikanischer Journalist<br />
habe ihn gefragt, wie er es verantworten könne, von den<br />
Hunderttausenden Besuchern, die an seinen monatlichen<br />
Event-Gottesdiensten teilnehmen, mehrere Kollekten einzufordern.<br />
Daraufhin habe er geantwortet: „Ich lächelte<br />
und sagte: Danke der Nachfrage. Jahrelang hat Afrika seine<br />
Hand ausgestreckt, um Hilfe von anderen Nationen zu<br />
erhalten. Die Leute dort haben gegeben und sind wohlhabender<br />
geworden. Aber wir, mit all unseren Ressourcen,<br />
sind ärmer geworden, weil wir Hilfsempfänger waren. Deswegen<br />
habe ich mit meinem Gott einen Pakt geschlossen:<br />
Noch zu meinen Lebzeiten wird Nigeria den Ländern der<br />
Welt Kredite geben. Denn nur durch Geben kommst du aus<br />
der Armut. Deswegen lehre ich meine Leute, dass sie spenden<br />
sollen und bete weiter für sie zu Gott.“<br />
Dass gerade die Verbreitung des Wohlstandsevangeliums<br />
von Adeboye als Mittel zur Emanzipation von der finanziellen<br />
Herrschaft des Nordens über den Süden angesehen<br />
wird, ist ungewöhnlich, aber zumindest nachdenkenswert.<br />
Adeboye widerspricht damit sämtlichen befreiungstheologischen<br />
Maximen.<br />
Die Begegnung mit Angehörigen internationaler Pfingstkirchen<br />
stellt alte Gewissheiten in Frage und wirft neue Fragen<br />
auf: Es bleibt zu hoffen, dass Fragen des Gottesbildes,<br />
der Struktur und der Ethik in Zukunft intensiver zwischen<br />
Angehörigen von „mainline churches“ und internationalen<br />
Pfingstkirchen erörtert werden. Manche Stereotypen<br />
könnten dadurch überwunden und neue Erkenntnisse gewonnen<br />
werden.<br />
24 | <strong>EMW</strong>-<strong>Jahresbericht</strong> <strong>2010</strong>/<strong>2011</strong><br />
| Dr. Anna Quaas ist Theologin und hat sich in einem<br />
Forschungsprojekt mit nigerianischen Pfingstkirchen und<br />
deren Verbreitung in Europa befasst.<br />
„Wir sind viele<br />
und wer seid Ihr?“<br />
Kennzeichnend für das pfingstliche Christentum<br />
ist ein gut entwickeltes Selbstbewusstsein.<br />
Bei einer Begegnung zwischen Vertretern der<br />
EKD und lateinamerikanischen Pfingstkirchen<br />
führte dies zu ungewöhnlichen Gesprächssituationen,<br />
wie Uta Andrée berichtet.<br />
„Wir sind viele und wer seid Ihr?“ Mit dieser Frage<br />
kommen ein Selbstbild und eine Neugier zum Ausdruck,<br />
die das Gespräch zwischen Lutheranern und Pfingstlern<br />
aus Lateinamerika in Wittenberg im Mai <strong>2011</strong> bestimmt<br />
haben. Vertreter von Pfingstkirchen aus Argentinien, Chile<br />
und Brasilien, die auf Einladung der EKD an einer Studien-<br />
und Begegnungsreise teilnahmen, stellten in immer<br />
wieder neuen Varianten diese Frage an Lutheraner und<br />
Unierte – an ihre Landsleute, die ebenfalls an der Reise<br />
teilnahmen. Dabei bestimmte nicht Überheblichkeit die<br />
Tonlage, sondern manchmal ein Staunen, manchmal ein<br />
Ärger darüber, dass es da Kirchen gibt, denen es nicht in<br />
erster Linie um das konstante Wachsen der Mitgliederzahlen<br />
geht, nicht um die starke und laute Präsenz auf den Plätzen<br />
der Städte und nicht um ständig neue und spektakuläre<br />
Bekehrungsgeschichten. Worum geht es euch dann? Und<br />
worauf beruft ihr euch, wenn das Evangelium euch nicht<br />
zu solchen Zeugen macht, wie wir es sind – mit unserer<br />
uneingeschränkten Hingabe, mit unserem neuen Lebenswandel<br />
und mit den Zeichen von Wundern und Gottesnähe<br />
in unseren Zelten und auf unseren Bühnen? In Wittenberg<br />
wandelten sich Vorurteile und Kampagnen in echte Fragen<br />
an leibhaftige Gesprächspartner.<br />
In Lateinamerika sind nicht nur die Pfingstkirchen und<br />
ihre Mitglieder in großer und wachsender Zahl präsent,<br />
auch die historischen Kirchen (Protestanten und Katholiken)<br />
müssen sich charismatischen Bewegungen innerhalb<br />
ihrer Gemeinden stellen und eine adäquate Antwort darauf<br />
finden. Die römisch-katholische Kirche hat sich offensiv für<br />
eine Beheimatung dieser Gruppen intra muros entschieden.<br />
Ein Beispiel dafür ist die Unterstützung der Megachurch-<br />
Bewegung des brasilianischen Priesters Marcelo Rossi in<br />
São Paulo. Auch durch alle Kirchen der Reformation zieht<br />
sich die zum Teil scharfe Auseinandersetzung um den angemessenen<br />
Umgang mit fundamentalistischen, moralistischen<br />
und charismatisierenden Strömungen – wobei diese<br />
drei Merkmale bei manchen neuen Bewegungen ineinan-