TB 1 - Landesfilmdienst Nordrhein-Westfalen eV
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NEULANDERSCHLIEßUNG – DIE ZEIT –<br />
UNSERE LANDSLEUTE AUS KARAGANDA – BS 17,22<br />
als verwundert: ein breiter Boulevard, das einstige<br />
Gebietskomitee der KPdSU, ein Kasten von einem<br />
Hotel, ein pompöser Kulturpalast, Schwimmbad,<br />
Kino, vorzugsweise im pseudoklassizistischen Stil<br />
der Stalin-Epoche, wie aus dem Musterbuch sowjetischer<br />
Städtegründungen. Eine Kulisse. Jenseits<br />
der Hauptstraße ist Karaganda eine wilde Ansammlung<br />
verschiedenster Elemente und Welten.<br />
Plattenbauten neben dörflichen Isbas, Fördertürme<br />
und Fabrikmonster, mit Bergen von Abraum<br />
umgeben, die in der Ebene wie mächtige Busen<br />
wirken. Und wo immer sich eine freie Fläche zeigt,<br />
berittene Hirten mit ihren Herden.<br />
…<br />
Baue mal einer in der kasachischen Steppe! Nichts<br />
als Erde, Pfriemgras, Disteln. Kein Holz, kaum Stein.<br />
Tierhaut statt Fensterglas. Die erste Behausung des<br />
jungen Paars in Karaganda war eine Sem-lanka.<br />
Die zweite ein „Samanhaus“, aus Lehmbatzen,<br />
neun Kinder fanden darin Platz. Mal wurde es um<br />
einen Dachboden ergänzt, die Wäsche gegen den<br />
Kohlestaub zu schützen, mal die Heizung verbessert.<br />
In der Mangelwirtschaft musste man auf Dauer<br />
erfinderisch sein.<br />
Ganz bewusst sind der Schachtior Heinrich Dyck<br />
und seine Frau nie in eines der Hochhäuser umgezogen,<br />
wo die „ganze Schlechtigkeit wohnt“.<br />
In ihren vier Wänden konnten sie freier schalten<br />
und walten. Jeden Freitag wurde „Ribbelkuchen“<br />
gebacken, legte Rebeka Dyck für die Kinder eine<br />
Decke auf den Boden und erzählte von besseren,<br />
gottgefälligen Zeiten. Das Haus war eine Welt mit<br />
eigenen Gesetzen, mit seinem Garten und Stall, Kühen,<br />
„Hinkeln“ und so weiter war es zugleich eine<br />
private Ökonomie. Chruschtschow… Breschnew…<br />
Gorbatschow, es blieb der Lebensmittelpunkt der<br />
Familie, für Tochter Pauline, die Turmkranführerin<br />
– Bauberufe waren typisch für diese Generation.<br />
Paulines ältester Sohn Waldemar wohnte als Kind<br />
viel bei Oma und Opa Dyck.<br />
Ebendieser Waldemar wollte partout nicht nach<br />
Deutschland. Er war 16, nach der Ankunft 1989<br />
jahrelang heimwehkrank und sprachlos. In der<br />
Enge der Notwohnung war an Lernen nicht zu<br />
denken. Irgendwann riss er aus, 40 Tage war er<br />
spurlos verschwunden. Plötzlich stand er wieder da,<br />
kahl geschoren, in wattierter Jacke, er war in Karaganda<br />
gewesen. Und schrie: „Maaaaamaaaaa!<br />
Danke, dass du mich nach Deutschland gebracht<br />
hast.“ Danach hat er noch „viel Scheiße gebaut“,<br />
ausgestanden war das Drama erst mit Swetlana,<br />
einer Deutschen aus Karaganda, die er 23-jährig<br />
heiratete. Wirklich und endlich angekommen sind<br />
sie, wenn sie demnächst mit ihren drei Kindern das<br />
Haus beziehen.<br />
Der Löwenanteil ist Eigenleistung, Kapital so gut<br />
wie nicht vorhanden, der Bankkredit zum Fürchten<br />
– das Projekt eines ungelernten Arbeiters und<br />
einer Altenpflegerin. So ähnlich haben sich vor 40,<br />
50 Jahren traumatisierte Habenichtse aus dem Osten<br />
ein Zuhause geschaffen.<br />
Steppenkinder, Wolfsburg und Werl<br />
Café Wallenstein, Wolfsburg, die Miss Niedersachsen<br />
tritt ein. Linna Hensel kommt, wie es schon<br />
in der Zeitung stand, nie allein, sondern immer<br />
mit ihrer älteren Schwester Alexandra. Schön sind<br />
sie beide, in ihren Gesichtern spiegeln sich zwei<br />
Kontinente, Alexandra ist mehr Asien, Linna Europa.<br />
Linna ist eigentlich Lina: „Das zweite „n“ hat<br />
unser koreanischer Vater reingebracht, der Name<br />
war ihm zu deutsch.“ – „Unsere Familie ist total<br />
verschleust“, lacht Alexandra. „Und wie!“ lächelt<br />
Linna, und wieder Alexandra: „Ihnen wird noch<br />
der Kopf rauchen.“<br />
„Wir“, sie sprechen immer im Plural, und als Dritte<br />
ist die Mutter im Bunde. „Mama, skashi, wie<br />
war das? Seit wann ist unsere Oma taub?“, rufen<br />
sie ins Handy. Quietschvergnügt durchstreifen sie<br />
die Schreckenskammern des 20. Jahrhunderts, es<br />
ergibt sich ungefähr folgender Sachverhalt: Ihre<br />
Großmutter Lina Hensel, 1935 in Darmstadt/Ukraine<br />
geboren, wurde als Zweijährige durch eine<br />
Entzündung im Ohr taub. 1941 entgingen die<br />
Hensels der Deportation nach Asien, weil die deutsche<br />
Wehrmacht schneller da war, man siedelte sie<br />
später in den „Warthegau“ um. Linas Vater fiel im<br />
Krieg, die restliche Familie wurde 1945 ins Sowjet-<br />
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