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TB 1 - Landesfilmdienst Nordrhein-Westfalen eV

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43,1<br />

76<br />

FÜR UNS FÜHRT KEIN WEG ZURÜCK – MUSTER-ARTIKEL LAHN-<br />

DILL – BS 25<br />

„Für uns führt keinWeg zurück“<br />

Die Familie Leichner will als Deutsche in Deutschland leben<br />

Von Klaus Birk<br />

(0 64 71) 93 80 24<br />

k.birk@mittelhessen.de<br />

Mengerskirchen-Waldernbach. Am 25. Mai 1992 sind Ludwig und Pauline Leichner in Deutschland angekommen. Aus Kasachstan hat sie ihr Weg<br />

über das Aufnahmelager Empfingen bei Stuttgart direkt in den Westerwald nach Waldernbach geführt. Das Ehepaar Leichner hat zwei Kinder,<br />

Waldemar und Alexander, damals, als sie hier ankommen, sind die Buben 17 und 15 Jahre alt. Die Leichners wollen nicht länger als Deutsche in<br />

Russland leben. Sie wollen da leben, wo ihre Vorfahren herkamen. Aber sie kommen nicht in ihrem Vaterland an; sie kommen an in Deutschland. In<br />

einem Land, in dem sie nicht als Landsleute empfangen werden: Jetzt plötzlich sind sie Russen.<br />

Ludwig und Pauline Leichner sind nicht<br />

unbedingt eine durchschnittliche russische<br />

Familie mit deutschem Stammbaum: Beide<br />

haben die Universität besucht, beide haben<br />

hervorragende Abschlüsse. Pauline, geborene<br />

Meissner, ist Deutschlehrerin. Ludwig ist<br />

zum Generaldirektor einer staatlichen Handelskette<br />

aufgestiegen.<br />

„Wir hatten ein gutes Leben in Kasachstan.<br />

Wir hatten, was wir brauchten. Es ging uns<br />

gut“, sagt Ludwig Leichner. Sie haben viel<br />

aufgegeben.<br />

Als sie gingen, da hoffte Ludwig Leichner,<br />

dass er Glück haben und vielleicht in einem<br />

deutschen Geschäft würde Arbeit finden<br />

können; sozusagen vom Chef zum Angestellten.<br />

Trotzdem: „Wir wollten das so“,<br />

sagt er. Und wenn sie und ihre Vorfahren<br />

etwas gelernt haben in Russland, dann dies:<br />

Bei Null anzufangen.<br />

Ludwig Leichner erzählt. Er kann gut erzählen<br />

– und viel. Er erzählt zum Beispiel davon,<br />

wie sie in Kasachstan gefeiert haben.<br />

Und wie es auf ihn und „unsere Leute“<br />

wirkt, wie in Deutschland gefeiert wird. „In<br />

unserem Dorf haben alle für das Dorf gearbeitet.<br />

In der Landwirtschaft, als Lastwagenfahrer,<br />

in den Betrieben, in den Geschäften.<br />

Im Frühjahr, wenn die Felder bestellt und die<br />

Saat ausgebracht war, dann haben sich alle<br />

getroffen, zusammen gesessen, gegessen,<br />

getrunken, geredet. Es wurde ein Schwein<br />

oder ein Rind geschlachtet, es wurden Prämien<br />

verteilt. Und im Herbst, nach der Ernte,<br />

wieder.“ Es war: Gemeinsamkeit.<br />

In Deutschland wird auch gefeiert, Kirmes<br />

zum Beispiel. „Da sitzt du am Tisch und<br />

weißt nicht, worüber du mit deinem Gegenüber<br />

sprechen sollst, wenn es nicht zufällig<br />

ein Arbeitskollege oder Bekannter ist.“ Es<br />

fehlt: Gemeinsamkeit.<br />

Es schimmert Wehmut durch zwischen den<br />

Worten, „Nostalgie“, wie Ludwig Leichner<br />

es nennt; wir würden Heimweh dazu sagen.<br />

„Nostalgie hat jeder, der aus Russland nach<br />

Deutschland gekommen ist. Wer das Gegenteil<br />

behauptet, lügt“, sagt er. Und fügt hinzu:<br />

„Aber was ist denn, wenn du zurückkehrst:<br />

Was willst du dann dort?“ Für ihn steht fest:<br />

„Es gibt keinen Weg zurück.“ So wie für<br />

kaum jemanden, der den Schritt gewagt hat<br />

in das Land seiner „Urväter“, wie Leichner<br />

Deutschland nennt. Dabei kennt die Familie<br />

ihre Urväter gar nicht. Wann die Familien<br />

von Deutschland nach Russland kamen?<br />

„Wir wissen es nicht.“ Vielleicht, als Katharina<br />

die Große Mitte des 18. Jahrhunderts<br />

Deutsche Handwerker rief? Vielleicht<br />

sogar früher, vielleicht auch später. Sicher<br />

ist (Ludwig Leichner hat inzwischen die<br />

Dokumente aus geheimen Archiven): Sein<br />

Großvater wurde am 23. März 1938 zum<br />

Tode verurteilt, knapp vier Wochen später<br />

erschossen. Weil er ein Konterrevolutionär<br />

gewesen sei; vor allem aber wohl, weil er<br />

Deutscher war. Am 1. März 1960 wurde er<br />

rehabilitiert.<br />

■ Mit dem Zweiten Weltkrieg beginnt<br />

die Odyssee durch Russland<br />

Ludwig Leichners Vater, er hieß auch Ludwig<br />

und wurde 1904 im Raum Saratov in<br />

der Wolgadeutschen Republik geboren, wird<br />

1941 mit seiner Familie zwangsdeportiert –<br />

weit in den russischen Osten in die Gegend<br />

um Krasnojarsk. Es ist Krieg, Hitler hat Russland<br />

überfallen, Stalin lässt die Deutschen,<br />

die in Russland leben, verschleppen, verfolgen,<br />

umbringen. Ludwig Senior verliert alles,<br />

was er besaß. In der Verbannung sterben<br />

zudem seine erste Frau und sein Vater.<br />

1946 wird Ludwig Senior dann zurück nach<br />

Solikamsk, die Salzstadt im Ural, verwiesen.<br />

Dort, an der Perm, fängt er wieder bei<br />

Null an, dort heiratet er später seine zweite<br />

Frau Maria, dort wird am 28. Dezember<br />

1949 Sohn Ludwig geboren.<br />

1962 siedelt die Familie erneut um in die<br />

Gegend von Koktschetau im nördlichen<br />

Kasachstan. Ludwig Junior besucht dort<br />

zunächst das Technikum, später die Universität.<br />

Er wird das, was wir heute Betriebswirt<br />

nennen. Er fängt in der staatlichen Handelskette<br />

an, steigt auf zum Bezirksleiter, heiratet<br />

1973 seine Frau Pauline Meissner, deren<br />

Familie ein ganz ähnliches Schicksal zu erleiden<br />

hatte. Ihr Vater war Bauer in der Gegend<br />

von Saratow, ihre Familie wurde 1941<br />

in die Region Koktschetau deportiert.<br />

1977 ziehen Ludwig und Pauline zusammen<br />

mit ihren Söhnen Waldemar und Alexander<br />

aus dem Dorf in die Stadt, nach Koktschetau.<br />

Er wird dort Chef der Handelskette,<br />

sie unterrichtet Deutsch an einer Schule.<br />

1991 trifft Ludwig Leichner unter anderem<br />

Michail Gorbatschow und dessen verstorbene<br />

Frau Raissa, die seine Handelszentrale<br />

besuchen.<br />

„Wir haben dort nicht schlecht gelebt“, sagt<br />

Ludwig Leichner im Rückblick noch einmal.<br />

Eine schöne Wohnung hatten sie, einen<br />

gefüllten Kühlschrank, ein Auto, eine Datsche.<br />

Alles.<br />

„Aber wir waren trotzdem Fremde in diesem<br />

Land. Weil wir Deutsche waren.“ Und Ludwig,<br />

später selbst Mitglied im Prüfungsausschuss<br />

am Technikum, denkt an die Zukunft<br />

seiner Kinder: Als Deutsche würden auch<br />

sie es immer schwer haben in Russland. Und<br />

Kasachstan will in den 90er Jahren Kasachisch<br />

als Amtssprache einführen. Er ist zu<br />

diesem Zeitpunkt über 40 Jahre alt, er kann<br />

diese Sprache nicht; es würde ihm schwer<br />

fallen, Kasachisch zu lernen.<br />

Als die Einreiseerlaubnis nach Deutschland<br />

gekommen sei, da hätten sie schlecht<br />

geschlafen, er und seine Frau. Was ist richtig?<br />

Was ist falsch? Viel geredet hätten sie,<br />

nachgedacht – und dann, im Mai 1992, sind<br />

sie doch gegangen. In Waldernbach bekommen<br />

sie eine Notunterkunft zugewiesen,<br />

fast ein Jahr wohnt die Familie dort. „Wir<br />

hatten Glück, dass wir nach Waldernbach<br />

gekommen sind. Wir sind dort sehr gut aufgenommen<br />

worden“, sagt Ludwig Leichner<br />

im Rückblick.<br />

Auf den Sprachkurs muss Ludwig bis zum<br />

Herbst warten. Sie machen unliebsame Erfahrungen<br />

mit der deutschen Bürokratie und<br />

Ludwig Leichner ärgert sich, dass er nicht<br />

die Sprachkenntnisse seiner Frau hat, um auf<br />

seine Ansprüche pochen zu können.<br />

Der älteste Sohn Waldemar, der bereits am<br />

Technikum in seiner Heimatstadt seinen Abschluss<br />

als Bürokaufmann gemacht hat, und<br />

in die Fußstapfen seines Vaters treten will,<br />

hat hier keine Chance auf eine Banklehre;<br />

mangelnde Sprachkenntnisse stehen dem im<br />

Weg. Trotzdem beginnt er gleich zu arbeiten.<br />

Nach einem Jahr fängt eine Schreinerlehre<br />

in Mengerskirchen an, findet danach Arbeit<br />

bei Beck und Heun, beginnt dort eine weitere<br />

Lehre als Industriekaufmann, die er inzwischen<br />

abgeschlossen hat. Er ist von dem<br />

Waldernbacher Unternehmen übernommen<br />

worden. Alexander, der jüngere Sohn, lernt<br />

Feinblechkonstrukteur und ist inzwischen<br />

Projektleiter in einem Metallbetrieb.<br />

Auch Ludwig Leichner bekommt bald einen<br />

Job bei Beck und Heun, allerdings, sagt er,<br />

„nicht als Generaldirektor, denn den hatten<br />

sie da schon“. Er ist dort seit etlichen Jahren<br />

als Arbeiter beschäftigt. „Wie gesagt, wir<br />

sind es gewohnt, bei Null anzufangen. Mein<br />

Vater war Arbeiter und ich habe auch keine<br />

Angst vor Arbeit.“<br />

Stolz ist er auf das, was er sich in Waldernbach<br />

inzwischen geschaffen hat: Zunächst<br />

hat er eine neue Wohnung für seine Familie<br />

gefunden, dann eine für seine Schwiegereltern,<br />

die 1995 ebenfalls nach Deutschland<br />

kommen. Und schließlich hat er zusammen<br />

mit seinem Sohn ein Haus gebaut in Waldernbach,<br />

in dem sie jetzt wohnen.<br />

In Kasachstan ist Kasachisch übrigens bis<br />

heute keine Amtssprache geworden; es wird<br />

weiter Russisch gesprochen. Ludwig Leichner<br />

hätte seinen Direktorenposten behalten,<br />

dort in Rente gehen und mit seiner Familie<br />

weiter leben können. Aber, sagt er: „ Wir<br />

wollten als Deutsche in Deutschland leben.<br />

Und zurückkehren? Was soll ich denn in Kasachstan?“<br />

Hier in Deutschland sehen er und<br />

seine Familie die Zukunft.<br />

Quelle: Zeitungsgruppe lahndill „Deutsche<br />

aus Russland – Russen in Deutschland“<br />

v. 22. Mai 2006, Seite 11

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