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TB 1 - Landesfilmdienst Nordrhein-Westfalen eV

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NEULANDERSCHLIEßUNG – DIE ZEIT –<br />

UNSERE LANDSLEUTE AUS KARAGANDA – BS 17,22<br />

hat sie im Stich gelassen, sie lernten Russisch,<br />

Kasachisch.“ Auf der Gangway ist ihnen zumute,<br />

als flögen sie ins All: „Karaganda–Frankfurt,<br />

Karaganda–Kosmos.“<br />

Ursachen und Verlauf des Exodus werden künftige<br />

Historiker erforschen; für Karaganda ist vorläufig<br />

Folgendes festzuhalten: Am 30. September 1973<br />

trafen sich etwa 400 Deutsche zu einer verbotenen<br />

Demonstration. Verhaftungen folgten. Ganze Familien,<br />

Sowjetfeinde meist aus Glaubensgründen,<br />

setzten sich nach Moldawien oder ins Baltikum ab,<br />

wo Ausreiseanträge größere Erfolgschancen hatten.<br />

Nach Jahren des Wartens durften viele nach<br />

Germanija ziehen – eine Vorhut.<br />

Ähnlich mutige Leute waren es, solche wie die<br />

Dycks und die Pauls, die sofort das Passgesetz von<br />

1986 zu nutzen versuchten. Wenig später schon<br />

war die Entwicklung nicht mehr aufzuhalten. Zum<br />

einen kam mit dem freien Sprechen, das nun möglich<br />

war, die Vergangenheit ans Licht, Deportation,<br />

Zwangsarbeit, der ganze Albtraum der Geschichte.<br />

Und die ebenso tabuisierte, gefährliche Lage der<br />

Stadt: Karaganda befindet sich zwischen Semipalatinsk<br />

(Atomwaffentests), Baikonur (Kosmodrom)<br />

und Stepnogorsk (Biowaffen). Zugleich kündigte<br />

sich ein gesellschaftliches Beben an. Die Kasachen<br />

forderten ihr Recht, der Koloss Sowjetunion schien<br />

ins Wanken geraten. Es war mehr ein Gefühl als<br />

ein klares Bewusstsein: Raus, bevor wieder etwas<br />

Schreckliches passiert! Einmal in Gang, entstand<br />

so etwas wie eine Kettenreaktion.<br />

1989 war Karaganda mit seinen 800.000 Einwohnern<br />

noch eine moderne Großstadt sowjetischen<br />

Typs. 1991 stürzte sie mit dem Reich ins Bodenlose,<br />

ihr Niedergang war fast so dramatisch wie<br />

ihr Aufstieg 70 Jahre zuvor. 36 Schächte wurden<br />

geschlossen, die Kohle, um derentwillen Karaganda<br />

gegründet wurde, brauchte keiner mehr. Wer<br />

nur eben konnte, Russen, Polen, Ukrainer et cetera<br />

floh in die alte Heimat. Heizungsleitungen platzten<br />

im Winter, der Strom fiel aus, leere Wohnblocks<br />

zerfielen wie im Zeitraffer. „Die Steppe“, sagten<br />

die Zurückbleibenden, „erobert die Stadt zurück.“<br />

So war es, als Familie Gudi und die Hensels sie<br />

verließen.<br />

Mitte der Neunziger trat der Exodus in seine vorerst<br />

letzte Phase ein. Indem die Bundesregierung den<br />

Zuzug auf 100.000 Aussiedler pro Jahr begrenzte<br />

und Sprachtests einführte, entstanden Wartezeiten<br />

von drei bis sieben Jahren. Derweil stabilisierte<br />

sich die Situation Karagandas ein wenig. Nach<br />

Plan von Präsident Nasarbajew, den russisch kolonisierten<br />

Norden kasachisch zu prägen, wurde<br />

eine neue Hauptstadt geschaffen, Astana. Man<br />

legte Siedlungsprogramme auf, aus den Kolchosen<br />

freigesetzte Kasachen zogen in die Städte des<br />

Nordens, desgleichen Exilkasachen aus der Mongolei.<br />

In Karaganda leben inzwischen 45 Prozent<br />

Kasachen, früher waren es drei Prozent. Das Volk<br />

der Nomaden und Halbnomaden, das nach 1917<br />

in die Moderne katapultiert wurde und wie kaum<br />

ein anderes seine Identität verloren hat, seine Tradition,<br />

seine Sprache, den muslimischen Glauben,<br />

will die Tragödie mit Macht überwinden. Und in<br />

dieser Neuordnung haben, auch wenn sie sich bemerkenswert<br />

friedlich vollzieht, die auf Ausreise<br />

Wartenden keinen Platz.<br />

Solche wie Familie Onodalo aus Abai, einem Sputnik<br />

von Karaganda. Soeben, nach fünf zähen<br />

Jahren des Wartens, aus 27 Grad minus in den<br />

Vorfrühling geraten, nach Friedland. „I-ch biiin<br />

An-gst“, buchstabiert Ida Onodalo und zieht die<br />

Stirn unter den braunen Locken kraus. Ihr Mann<br />

Alexander und der erwachsene Sohn haben Reißaus<br />

genommen, wir sind zu zweit in dem weiß<br />

getünchten Schlafsaal. „Ich kann nich verzelle, o<br />

gospodi! (Mein Gott!)“. Sie scheint einer Ohnmacht<br />

nahe.<br />

Hinter ihr liegen Wochen des Abschieds, vom älteren<br />

Sohn und von dessen Familie, von ihrer besten<br />

Freundin Sagat, einer Kasachin, von ihren Schülern.<br />

Eine Lehrerin, die auf einmal sprachlos ist. Sie, Ida,<br />

die Tochter von Wolgadeutschen, wird von jetzt<br />

an ihren Mann, den Ukrainer, stützen müssen, der<br />

es noch schwerer hat. Seine ganze große Familie<br />

blieb in der Steppe zurück, seine Kultur hat in<br />

Deutschland so gut wie keine Überlebenschance.<br />

Quelle: DIE ZEIT 11.03.2004 Nr.12 http://www.zeit.<br />

de/2004/12/Russlanddeutsche<br />

<strong>TB</strong><br />

34,4<br />

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