Human Condition - Universalmuseum Joanneum
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98 — 99<br />
Sophie Loidolt<br />
Immanuel Kant<br />
(17241804)<br />
13 Arendt, Über die Revolution,<br />
S. 86.<br />
14 Vgl. Trawny, Verstehen und<br />
Urteilen, S. 288.<br />
Leben keine Folgen in der Welt hat, keine Spur in ihr hinterlässt“13. Um es mit Brecht<br />
zu sagen:<br />
Denn die einen sind im Dunkeln<br />
Und die andern sind im Licht.<br />
Und man siehet die im Lichte,<br />
Die im Dunkeln sieht man nicht.<br />
Der Prozess des Verstehens bedeutet also zunächst einmal zu erzählen. Doch erzählen<br />
ist nie bloß abschildern. Es erfordert nicht nur immer ein Urteilen im Wie des Erzählens,<br />
mehr noch: Das ethische Element dieses gleichsam erzählenden Verstehens ist das<br />
Urteilen 14 – indem es sich über die bloßen Ereignisse der Geschichte erhebt und sie<br />
beurteilt. In diesem Sinn erinnert Arendt daran, dass das griechische Wort historein<br />
(„erkunden, um zu erzählen, wie es war“) ursprünglich bei Homer im Wort histor vorkommt,<br />
und dieser Historiker Homers ist der Richter. Es geht also darum, gleichsam vor<br />
dem großen Gemälde des Geschehens zurückzutreten, um es sehen zu können, um<br />
einen „Sinn“ zu erfassen und diesen urteilend für das Menschliche zurückzugewinnen.<br />
Dabei darf nie vergessen werden, dass dieser Urteils und Sinngewinnungsprozess für<br />
Arendt einer ist, der sich nur in der Pluralität vollziehen kann – und dass es Arendt mit<br />
dem „Sinn“ nicht um einen absoluten Wahrheitsanspruch geht, sondern darum, dass<br />
Menschen in einer Welt „zu Hause“ sein können, sich orientieren und sich mit dem<br />
Geschehenen versöhnen können, indem sie eben über es urteilen. Deshalb geht es um<br />
„selbst denken“ und „zu einem Urteil kommen“ genauso wie um den Austausch und den<br />
Diskurs mit anderen. Arendt spricht vor allem den Dichtern (man könnte im weiteren<br />
Sinne vielleicht auch sagen: den Künstlern) eine herausragende Fähigkeit zum ersten<br />
Erzählen zu. Sie vermögen den Sinn des Gehandelten am ehesten zu erfassen, weil sie<br />
(idealerweise) frei sind, d.h., weil sie unabhängig sowohl vom wissenschaftlichen als<br />
auch vom gesellschaftlichen Konsens sind.15 Doch das Vermögen des Urteilens kommt<br />
uns allen zu. Hier handelt es sich nicht nur um ein BetroffenSein, sondern um eine erste<br />
Emanzipation, eine Selbstbefreiung zum Urteilen hin. Die Empathie des Verstehens<br />
emanzipiert uns dahingehend, verschiedene Standpunkte in unserem Denken einnehmen<br />
zu können.<br />
2 Emanzipation: denken, handeln, urteilen<br />
„Urteilen“ bedeutet hier nicht „verurteilen“ oder gar „aburteilen“. Es bedeutet auch<br />
nicht, bloß eine Meinung zu haben, die man für seine eigene hält. Urteilen ist vielmehr<br />
ein aktiver Prozess, ein Durchgehen und Abwägen vieler verschiedener Standpunkte,<br />
ein Reflektieren der eigenen Perspektive und ein Einnehmen der der anderen. Eine<br />
Anstrengung des Denkens, der Einbildungskraft und der Reflexion sind erforderlich,<br />
bevor man zu seinem Urteil kommt, seinen angereicherten Standpunkt durchgedacht<br />
und sich eine Meinung gebildet hat (im Unterschied zu Meinungen, die einem bloß<br />
zufallen oder gleichsam aus einem hervorbrechen).<br />
Arendt entwickelt ihre Urteilstheorie am Leitfaden des ersten Teils von Kants Kritik der<br />
Urteilskraft, der das ästhetische Urteilen zum Thema hat – denn Kant ist sich bewusst,<br />
dass in „Geschmacksurteilen“ nicht nur einfach Kategorien auf „Fälle“ an gewendet<br />
werden, sondern dass das Urteilen hier eine ganz besondere, „reflektierende“ Aufgabe<br />
erfüllt. Deshalb nennt er diese Urteile, in denen keine allgemeinen Maßstäbe zur<br />
Beurteilung vorliegen, auch „reflektierende Urteile“ im Gegensatz zu „bestimmenden<br />
Urteilen“, die bloß subsumieren und insofern keine Herausforderung für die Urteilskraft<br />
darstellen. Arendt ist nun der Ansicht, dass im Grunde der gleiche Modus für<br />
das ästheti sche wie für das politische Urteilen, d.h. für das Urteilen über menschliche