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Human Condition - Universalmuseum Joanneum

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146 — 147<br />

Judith Butler<br />

7 Lévinas unterscheidet manchmal<br />

zwischen dem „Gesichtsausdruck“<br />

[countenance], worunter das<br />

Gesicht im Wahrnehmungs erleben<br />

verstanden wird, und dem „Gesicht“,<br />

dessen Koordinaten das Wahrnehmungsfeld<br />

trans zen dieren.<br />

Gelegentlich spricht er auch von<br />

„plastischen“ Darstellungen des<br />

Gesichts, die das Gesicht tilgen.<br />

Damit sich das Gesicht wie ein<br />

Gesicht ver halten kann, muß es<br />

sich stimmhaft äußern oder als<br />

die Funktionsweise ei ner Stimme<br />

verstanden werden.<br />

8 Siehe Lila Abu­Lughod, „Do<br />

Muslim Women Really Need Saving?<br />

Anthropological Reflections on<br />

Cultural Relativism and Others“, in:<br />

American Anthropologist, 104/3,<br />

S. 783–790.<br />

betrachtet zu werden oder sogar überhaupt nicht beachtet zu werden. Damit stehen<br />

wir vor einem Paradox, weil Lévinas deutlich gemacht hat, daß das Gesicht nicht<br />

ausschließlich ein menschliches Gesicht ist und gleichwohl eine Bedingung für<br />

Vermenschlichung ist.7 Ande rerseits wird das Gesicht in den Medien verwendet, um<br />

eine Ent menschlichung zu bewirken. Die Personifizierung vermensch licht offenkundig<br />

nicht immer. Für Lévinas kann sie das Gesicht, das vermenschlicht, durchaus entleeren;<br />

und ich möchte zeigen, daß die Personifizierung zuweilen ihre eigene Entmenschlichung<br />

vollzieht. Wie können wir den Unterschied erkennen zwischen dem nicht­menschlichen,<br />

aber (für Lévinas) vermenschlichenden Gesicht und der Entmenschlichung, die ebenfalls<br />

durch das Gesicht erfolgen kann?<br />

Vielleicht müssen wir an die verschiedenen Formen denken, in denen Gewalt geschehen<br />

kann: eine Form ist genau die durch die Herstellung des Gesichts, des Gesichts von<br />

Osama Bin Laden, des Gesichts von Jasir Arafat, des Gesichts von Saddam Hussein.<br />

Was ist mit diesen Gesichtern in den Medien geschehen? Sie sind ins Bild gesetzt<br />

geworden, gewiß, aber sie produzieren sich auch für dieses Bild. Und das Ergebnis ist<br />

ausnahmslos tendenziös. Es handelt sich dabei um mediengerechte Porträts, die oft<br />

im Dienst des Kriegs arrangiert werden, so als ob Bin Ladens Gesicht das Gesicht des<br />

Terrors wäre, als ob Arafats Gesicht das Gesicht der Täuschung wäre, als ob Saddams<br />

Gesicht das Gesicht zeitgenös sischer Tyrannei wäre. Und dagegen dann das Gesicht<br />

von Colin Powell, so wie es ins Bild gesetzt und verbreitet wird: Powell sitzt vor der<br />

ihn umgebenden Leinwand von Picassos Guernica, ein Gesicht, daß vor einem Hintergrund<br />

der Auslöschung in den Vor dergrund tritt, könnten wir sagen. Außerdem gibt<br />

es die Gesich ter afghanischer Mädchen, die ihre Burkas abgelegt oder fallen ge lassen<br />

haben. Irgendwann im letzten Winter besuchte ich einen Politikwissenschaftler, der<br />

diese Gesichter stolz an seiner Kühl schranktür zur Schau stellte – direkt neben einigen<br />

anscheinend wertvollen Supermarktcoupons: Für ihn waren sie ein Zeichen erfolgreicher<br />

Demokratie. Ein paar Tage später besuchte ich eine Konferenz, auf der ich einen<br />

Vortrag über die wichtigen kulturel len Bedeutungen der Burka hörte, darüber, wie<br />

sie für die Zuge hörigkeit zu einer Gemeinschaft und Religion, zu einer Familie, einer<br />

umfangreichen Geschichte von Verwandtschaftsbeziehun gen steht, daß sie eine Übung<br />

in Bescheidenheit und Stolz, einen Schutz vor Scham symbolisiert und daß sie auch<br />

als Schleier dient, hinter dem und durch den die weibliche Handlungsfähigkeit wir ken<br />

kann.8 Die Sprecherin fürchtete, daß die Zerstörung der Burka, so als sei diese ein<br />

Zeichen der Unterdrückung, der Rück ständigkeit oder sogar des Widerstandes gegenüber<br />

der kultu rellen Moderne selbst, zu einer erheblichen Dezimierung isla mischer<br />

Kultur führen würde und zu einer Ausbreitung von US­amerikanischen kulturellen<br />

Annahmen, wie Sexualität und Handlungsfähigkeit zu organisieren und darzustellen<br />

seien. Den triumphalen Fotos zufolge, die die Titelseite der New York Times beherrschten,<br />

entblößten diese jungen Frauen ihre Gesichter in einem Akt der Befreiung, aus Dankbarkeit<br />

für das US­Militär und als Ausdruck eines Vergnügens, das plötzlich und zum<br />

allergröß ten Entzücken nicht mehr verboten ist. Der amerikanische Zu schauer war<br />

sozusagen reif dafür, das Gesicht zu sehen, und schließlich wurde das Gesicht vor der<br />

Kamera und für die Kamera entblößt, wo es schlagartig zum Symbol für den kulturellen<br />

Fort schritt wurde, den man erfolgreich aus Amerika exportiert hatte. Das Gesicht<br />

wurde uns in diesem Augenblick entblößt, und wir waren gewissermaßen im Besitz des<br />

Gesichts; es wurde nicht nur von unseren Kameras eingefangen, sondern wir arrangierten<br />

es so, daß das Gesicht unseren Triumph einfängt und als Begrün dung für unsere<br />

Gewalt dient, für den Einbruch in die Souveräni tät, den Tod von Zivilisten. Wo ist der<br />

Verlust in diesem Gesicht? Und wo bleibt das Leiden wegen des Krieges? Tatsächlich<br />

scheint das fotografierte Gesicht das Gesicht im Lévinasschen Sinne zu verbergen oder<br />

zu ersetzen, denn wir sahen und hörten durch die ses Gesicht keine Vokalisierung von<br />

Trauer oder Qual, bemerkten kein Gefühl für die Gefährdetheit des Lebens.

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