Human Condition - Universalmuseum Joanneum
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34 Ebd., S. 24<br />
35 Spitz 1996<br />
36 Bowlby 1967, S. V<br />
sich nackte Angst aus. Die Kamera schwenkt über andere Kleinkinder, die stumpf,<br />
traurig und leb los wirken. Viele der Kinder sind abgemagert und legen stereotype<br />
Verhal tensweisen wie Kauen an den Händen an den Tag. Einige der Kinder können<br />
weder sitzen noch stehen. Sie verharren reglos und ausdruckslos, ohne An trieb.<br />
Sie wirken wie leere Hüllen. Dann erscheint eine Schrift auf der Lein wand: „Das<br />
Heilmittel: Gebt dem Kind die Mutter wieder!“34<br />
Die Zuschauer waren erschüttert. Einige brachen in Tränen aus. In den fol genden<br />
Jahren sollten sich Tausende von Ärzten, Psychologen, Sozialarbei tern und<br />
Kinder schwestern den Film ansehen. Viele lasen später auch die Ergebnisse der<br />
beiden Studien, die Spitz 1945 und 1946 zu dem Thema durch geführt hatte,<br />
die aber erst knapp 20 Jahre später veröffentlicht wurden.35 Sie markierten einen<br />
Wendepunkt in den Grundlagen der Säuglingspflege, aber dennoch sollte es noch<br />
zwei Jahrzehnte dauern, bis eine signifikante Mehr heit der Kinderärzte und -psychologen<br />
die Erkenntnisse aus den Studien und dem Film von René Spitz in ihre Arbeit<br />
einfließen ließ.<br />
Der Mann, der die Dokumentationen von Spitz und anderen Forschern maßgeblich zu<br />
einer tragfähigen Theorie ausformulierte, war der britische Psychiater John Bowlby. Die<br />
wesentlichen Aspekte seiner Bindungstheorie veröffentlichte er zwischen 1958 und<br />
1960 in drei Aufsätzen, die die psycho analytische Gemeinde erschütterten. Ausgehend<br />
von der Objektbeziehungs theorie und insbesondere William Fairbairns Erkenntnissen,<br />
erklärt Bowlby, dass die erste Beziehung eines Kindes zu seiner Mutter dessen geistige<br />
und emotionale Entwicklung entscheidend beeinflusst. Wie Fairbairn hält er das<br />
Bedürfnis des Kindes, Beziehungen zu anderen aufzubauen, für einen Pri märtrieb:<br />
Wenn ein Kind geboren wird, kann es eine Person nicht von der anderen unterscheiden,<br />
ja, es kann eine Person kaum von einem Gegenstand unterscheiden. Doch<br />
bis zu seinem ersten Geburtstag hat es sich im Allgemeinen zu einem wahren<br />
Men schenkenner gemausert. Es kann nicht nur mühelos zwischen Bekannten und<br />
Fremden unterscheiden, sondern sucht sich auch unter den Menschen, die es kennt,<br />
seine Lieblingspersonen heraus. Diese begrüßt es freudig, folgt ihnen, wenn sie<br />
ge hen, und sucht nach ihnen, wenn sie nicht da sind. Auf ihre Abwesenheit reagiert<br />
es mit Angst und Unruhe, ihre Rückkehr erleichtert es und vermittelt ihm ein Gefühl<br />
der Sicherheit. Auf diesem Fundament baut offenbar sein gesamtes Gefühlsleben<br />
auf – ohne dieses Fundament sind sein künftiges Glück und seine künftige Gesundheit<br />
gefährdet.36<br />
Bowlby teilt die Ablehnung der Freudschen Libidotheorie mit anderen Ob jektbeziehungstheoretikern,<br />
geht aber einen großen Schritt weiter, indem er die Objektbeziehungen<br />
in der Evolutionsbiologie verortet, und damit eine seriöse wissenschaftliche Basis<br />
für die Widerlegung der Freudschen Lehr meinung schafft. Seine Theorie ist stark von<br />
Konrad Lorenz’ verhaltensbiolo gischen Erkenntnissen beeinflusst. Lorenz hatte 1935<br />
im Journal für Ornithologie einen bedeutenden Beitrag über die Prägung bei Vögeln<br />
veröffentlicht. In seinem Aufsatz mit dem Titel „Der Kumpan in der Umwelt des Vogels“<br />
hatte Lorenz beschrieben, dass frisch geschlüpfte Jungtiere bei Vogelarten wie Enten<br />
und Gänsen sich dem ersten Erwachsenen anschließen, mit dem sie in Berührung<br />
kommen. Für Bowlby bestätigten diese Forschungsergeb nisse auf ethologischem Gebiet<br />
das, was er in Bezug auf die Entwicklung von Säuglingen beobachtet hatte.<br />
Seine eigenen Beobachtungen und die Erkenntnisse der Ethologen brach ten ihn zu der<br />
Vermutung, dass es bei fast allen Säugetierarten Bindungsverhalten gibt. Ein Jungtier<br />
sucht die Bindung an ein erwachsenes Tier, in den meisten Fällen die Mutter, weil<br />
es ihm Schutz bietet, und dieses Verhalten hat nichts mit dem Sexualtrieb oder dem<br />
Bedürfnis nach Nahrung zu tun. Doch Bowlby geht noch einen Schritt weiter als die