Human Condition - Universalmuseum Joanneum
Human Condition - Universalmuseum Joanneum
Human Condition - Universalmuseum Joanneum
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
8 Politisch gesprochen, geht die<br />
Geschichte des Materialismus<br />
zumindest bis auf Plato und Aristoteles<br />
zurück, die annahmen, daß<br />
politische Gemein schaften, also<br />
die Polis im Unterschied zu dem<br />
Beisammen mehrerer Haus halte<br />
(οἰκίαι), durch die materiellen<br />
Bedürfnisse der Menschen entstanden<br />
sind. (Für Plato, siehe<br />
Staat 369: „Es entsteht also eine<br />
Polis, wie ich glaube, weil jeder<br />
Einzelne von uns sich selbst nicht<br />
genügt, sondern gar vieles bedarf.“<br />
Aber vgl. dagegen den 11. Brief<br />
359, wo die Gründung von Poleis<br />
auf „Zusammentreffen großer<br />
Ereignisse“ zurückgeführt wird;<br />
hier spricht Plato nicht theoretisch<br />
und dürfte lediglich die in der Polis<br />
selbst herrschende Meinung über<br />
diese Dinge wiedergegeben haben.<br />
– Für Ari stoteles, dessen politische<br />
Philosophie in dieser wie in anderer<br />
Hinsicht sich enger an die öffentliche<br />
Meinung hält, siehe „Politik“<br />
1252 b 29: „Die Polis entsteht um<br />
des Lebens willen und bleibt um<br />
des Gut-Lebens willen bestehen“).<br />
Der aristotelische Begriff<br />
des σύμφερον, den wir später<br />
in Ciceros utilitas wiederfinden,<br />
erklärt sich im Zusammenhang<br />
dieser durchaus „ma terialistischen“<br />
Theorien. Plato und Aristoteles<br />
sind in Wahrheit die Vor läufer der<br />
Interessentheorie, die im Prinzip<br />
bereits von Bodin formuliert ist:<br />
Wie die Könige die Völker regieren,<br />
so regiert das Interesse die<br />
Könige. So ist auch das, was Marx<br />
innerhalb der modernen Entwicklung<br />
auszeich net, nicht etwa sein<br />
„Materialismus“, sondern daß er<br />
der einzige politische Theoretiker<br />
in dieser Tradition ist, der den<br />
Materialismus der Überliefe rung<br />
auf die ihm adäquate Grundlage<br />
stellte, nämlich die die Geschichte<br />
beherrschenden materiellen<br />
Interessen auf eine nachweisbare<br />
materielle menschliche Tätigkeit<br />
zurückführte, die Arbeit und den<br />
Stoffwechsel des Menschen mit<br />
der „Materie“.<br />
unwillkürlich-zusätzliche Enthüllung des Wer des Handelns und Sprechens einen so<br />
integrierenden Bestandteil allen, auch des „objektivsten“, Miteinanderseins, daß es ist,<br />
als sei der objektive Zwischenraum in allem Miteinander, mitsamt der ihm inhärenten<br />
Interessen gleichsam, von einem ganz und gar verschiedenen Zwischen durchwachsen<br />
und überwu chert, dem Bezugssystem nämlich, das aus den Taten und Wor ten selbst,<br />
aus dem lebendig Handeln und Sprechen entsteht, in dem Menschen sich direkt, über<br />
die Sachen, welche den jewei ligen Gegenstand bilden, hinweg aneinander richten und<br />
sich gegenseitig ansprechen. Dieses zweite Zwischen, das sich im Zwischenraum der<br />
Welt bildet, ist ungreifbar, da es nicht aus Dinghaftem besteht und sich in keiner Weise<br />
verdinglichen oder objektivieren läßt; Handeln und Sprechen sind Vorgänge, die von<br />
sich aus keine greifbaren Resultate und Endprodukte hinterlassen. Aber dies Zwischen<br />
ist in seiner Ungreifbarkeit nicht weniger wirklich als die Dingwelt unserer sichtbaren<br />
Um gebung. Wir nennen diese Wirklichkeit das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten,<br />
wobei die Metapher des Ge webes versucht, der physischen Ungreifbarkeit des<br />
Phänomens gerecht zu werden.<br />
Nun ist dies Gewebe menschlicher Bezüge natürlich, trotz seiner materiellen Ungreifbarkeit,<br />
weltlich nachweisbar und genau so an eine objektiv-gegenständliche Dingwelt<br />
gebunden, wie etwa die Sprache an die physische Existenz eines lebendi gen Organismus<br />
gebunden ist; aber das Verhältnis zwischen dem Bezugsgewebe menschlicher<br />
Angelegenheiten und der objektiv-gegenständlichen Welt, die es durchdringt, gleicht<br />
nicht etwa dem Bezug, der zwischen einer Fassade und einem Gebäude oder, in marxistischer<br />
Terminologie, zwischen dem „Überbau“ und den ihn tragenden materiellen<br />
Strukturen ob waltet. Der Grundirrtum aller Versuche, den Bereich des Poli tischen<br />
materia listisch zu verstehen – und dieser Materialismus ist nicht eine Erfindung von<br />
Marx und noch nicht einmal spezi fisch modern, sondern im wesentlichen genau so alt<br />
wie die Ge schichte politischer Philosophie 8 –, liegt darin, daß der allem Handeln und<br />
Sprechen inhärente, die Person enthüllende Fak tor einfach übersehen wird, nämlich<br />
die einfache Tatsache, daß Menschen, auch wenn sie nur ihre Interessen verfolgen und<br />
be stimmte weltliche Ziele im Auge haben, gar nicht anders können, als sich selbst in<br />
ihrer personalen Einmaligkeit zum Vorschein und mit ins Spiel zu bringen. Diesen sogenannten<br />
„sub jektiven Faktor“ auszuschalten würde bedeuten, die Menschen in etwas<br />
zu verwandeln, was sie nicht sind; zu leugnen, daß die Enthüllung der Person allem, auch<br />
dem zielbewußtesten Han deln innewohnt und für den Ablauf der Handlung bestimmte<br />
Konsequenzen hat, die weder durch Motive noch durch Ziele vorbestimmt sind, heißt<br />
einfach, der Wirklichkeit, so wie sie ist, nicht Rechnung tragen.<br />
Der Bereich, in dem die menschlichen Angelegenheiten vor sich gehen, besteht in einem<br />
Bezugssystem, das sich überall bildet, wo Menschen zusammenleben. Da Menschen<br />
nicht von ungefähr in die Welt geworfen werden, sondern von Men schen in eine schon<br />
bestehende Menschenwelt geboren wer den, geht das Bezugsgewebe menschlicher<br />
Angelegenheiten allem einzelnen Handeln und Sprechen voraus, so daß sowohl die<br />
Enthüllung des Neuankömmlings durch das Sprechen wie der Neuanfang, den das<br />
Handeln setzt, wie Fäden sind, die in ein bereits vorgewebtes Muster geschlagen<br />
werden und das Gewebe so verändern, wie sie ihrerseits alle Lebensfäden, mit denen<br />
sie innerhalb des Gewebes in Berührung kommen, auf einmalige Weise affizieren.<br />
Sind die Fäden erst zu Ende ge sponnen, so ergeben sie wieder klar erkennbare Muster<br />
bzw. sind als Lebensgeschichten erzählbar.<br />
Weil dies Bezugsgewebe mit den zahllosen, einander wider strebenden Absichten und<br />
Zwecken, die in ihm zur Geltung kommen, immer schon da war, bevor das Handeln<br />
überhaupt zum Zug kommt, kann der Handelnde so gut wie niemals die Ziele, die ihm<br />
ursprünglich vorschwebten, in Reinheit verwirk lichen; aber nur weil Handeln darin<br />
besteht, den eigenen Fa den in ein Gewebe zu schlagen, das man nicht selbst gemacht<br />
hat, kann es mit der gleichen Selbstverständlichkeit Geschich ten hervorbringen, mit der