Human Condition - Universalmuseum Joanneum
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78 — 79<br />
Adam Budak<br />
Griechen im Würgegriff,<br />
Titelseite der Frankfurter<br />
Rundschau, 2. März 2010<br />
56 Paci erinnerte sich, dass er als<br />
kleiner Junge mit Freunden ein<br />
ähnliches Spiel gespielt hatte – er<br />
erinnerte sich daran, als er in den<br />
Fernsehnachrichten Bilder von<br />
palästinensischen Kindern sah, die<br />
mit zerbrochenen Spiegeln Soldaten<br />
blendeten.<br />
Der Film Per Speculum (2006) des albanischen Künstlers Adrian Paci entlehnt seinen<br />
Titel vom Korintherbrief des Apostels Paulus: „Videmus nunc per speculum in aenigmate:<br />
tunc autem facie ad faciem. Nunc cognosco ex parte: tunc autem cognoscam<br />
sicut et cognitus sum“ (Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte<br />
Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich<br />
unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch<br />
und durch erkannt worden bin; Erster Brief an die Korinther XIII, 12). In der Eröffnungseinstellung<br />
des Films sehen wir eine Kindergruppe in einer idyllischen, beinah<br />
biblischen Landschaft, die auf seltsam beunruhigende Art und Weise direkt in das Auge<br />
der Kamera blickt, quasi auf Konfrontation mit ihr geht. Dies entpuppt sich bald als<br />
bloße Reflexion in einem riesigen Spiegel, der vor ihr aufgestellt ist, um die perfekte<br />
Illusion eines anderen, heterotopischen Raumes zu erzeugen, der gleichzeitig Nähe<br />
und unheimliche Distanz suggeriert. Die Gesichter der Kinder zeigen keinerlei Emotion,<br />
wenn auch ihre Blicke vorwurfsvoll sind und tatsächlich einen Hauch von Bosheit und<br />
verlorener Unschuld vermitteln. Pacis Szene lässt sich als ein ikonischer Augenblick<br />
wahrnehmen, der im Einklang mit der Pauluspassage darauf hinweist, dass jede körperliche<br />
Darstellung oder Spiegelung immer ungenau und verzerrt ist; anders betrachtet<br />
kann sie den Zusammenbruch aller Signifikationsbemühungen bezeichnen, indem sie<br />
sich mehr oder weniger buchstäblich auf das Scheitern der Lacan’schen Spiegelphase<br />
bezieht, eines entscheidenden Augenblicks in der Identitätsbildung, in dem aus einem<br />
zersplitterten Bild eine erkennbare kohärente Einheit wird und der den Eintritt des<br />
Kindes in die Welt markiert. Die Story von Per Speculum schreitet langsam voran, doch<br />
in radikaler Manier, sobald der Spiegel in einem gewaltsamen, wenn auch spielerischen<br />
Akt zerbricht und sich das Spiegelbild in zahllose Fragmente aufsplittert. So<br />
verschwindet nun der Gemeinschaftsgeist und die Kinder sind jetzt auf den Ästen eines<br />
gewaltigen Baumes verstreut und in ein weiteres neues „Funny Game“ vertieft.56 Jedes<br />
hält eine Scherbe des zerbrochenen Spiegels und produziert strahlende Lichtkegel,<br />
indem es das Sonnenlicht zurück auf die Kameralinse abprallen lässt und den Betrachter<br />
so mit der unerträglich intensiven Reflexion grausam blendet. In diesem Film, den<br />
man als unheimliche Performance des Gesichts und Drama des Schauens betrachten<br />
kann, markiert Adrian Paci die Unmöglichkeit des Gesichts und das Scheitern der<br />
Ansprache. In der Schwebe in einer archetypischen Raum-Zeit-Dimension, ausgestattet<br />
mit der umwerfenden metaphorischen Dichte einer Geschichte über Leben und Tod, ist<br />
Per Speculum eine tiefgründige Studie der Täuschung, in der alle erhaltenen Wahrheiten,<br />
Wahrnehmungen und Bedeutungen kritisch unterwandert werden. Diese Videoarbeit<br />
drückt auch die Zerbrechlichkeit des menschlichen Seins aus, offen ausgestellten<br />
Zorn und die Aggression latenter Traumata, selbstzerstörerische Gesten und die Instabilität<br />
prekärer Zeiten eingefangen im Augenblick der Erwartung und des Erwachens.<br />
Schon Pacis Arbeit Turn on (2004) berührte ähnliche Themen, verwies jedoch inhaltlich<br />
auf das reale Leben – die politische Situation im Heimatland des Künstlers. Der Film<br />
ist beinahe ein Tableau vivant aus 18 beschäftigungslosen Arbeitern aus Pacis Heimatstadt<br />
Shkoder, die auf einem öffentlichen Platz in der Stadt auf einer Treppe sitzen und<br />
die simple Tätigkeit des Einschaltens der benzinbetriebenen Generatoren zur Aufführung<br />
bringen, welche die Glühbirnen, die sie gleich Trophäen aus einer verlorenen Zivilisation<br />
in Händen halten, mit Strom versorgen. Auch hier ist der Mensch eine Quelle<br />
des Lichts, ein Erzeuger des Lichts. In Nahaufnahmen konzentriert sich der Künstler<br />
auf die von der Sonne gegerbten faltigen Gesichter der Männer und komponiert aus<br />
ihnen eine gleichsam eingefrorene Landschaft der Verletzlichkeit, paralysiert im<br />
Ausdruck der Resignation, der Sinnlosigkeit und des Scheiterns. Mit dieser Reihe von<br />
in die Kameralinse starrenden Gesichtern wird der Betrachter angesprochen und sein<br />
Moralgefühl aktiviert. Der Film ist ein bewegendes Dokument des Überlebens und ein<br />
Zeugnis des Wandels: ein fast spirituelles erhellendes Spektakel, in dem der aggressive