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Human Condition - Universalmuseum Joanneum

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78 Renzo Martens auf: http://<br />

www.modernedition.com/artarticles/contemporary-dutch-art/<br />

dutch-contemporary-artists.html<br />

erschreckenden Ausdruck. Es sind dies tatsächlich Episoden, Geschichten aus der Welt<br />

im TV-Serien-Format, fesselnde Berichte über ein Leben im Ausnahmezustand durch<br />

den Filter der sehr intimen privaten Lebenserfahrung des Künstlers/Autors. Episode<br />

1 und Episode 3 sind in der Tat Selbstporträts von Renzo Martens, mit dem Künstler<br />

höchstpersönlich als Erzähler, der die Handlung infiltriert und in Brecht’scher Manier<br />

verfremdet und somit den dramatischen Kontrast zwischen Wirklichkeiten und Welten<br />

im Allgemeinen kritisch in den Vordergrund rückt. Für Episode 1 bereist der Künstler<br />

die Kriegszone Tschetscheniens und drückt die Videokamera dabei desillusionierten<br />

Flüchtlingen in die Hand, die ihn filmen sollen, während er ihnen die allereinfachste,<br />

wenn auch höchst unerwartete Frage stellt: „Was hältst du von mir?“ Die Perspektive<br />

ist jetzt umgedreht: Das (Medien-)Bild wird von einem Opfer produziert und auf den<br />

Westen gerichtet. „Was ist dein Thema? Warum bist du hier? Warum brauchst du<br />

jemand anderen, der dir sagt, wo dein Platz ist? Warum filmst du das?“ – solch vorwurfsvolle<br />

und feindselige Fragen prallen zurück, während die Kamera das Gesicht des<br />

Künstlers durchdringt und seinen schamlosen Exhibitionismus auf die Probe stellt.<br />

Die Szene ist beschämend und für alle Beteiligten entwürdigend, und das Gefühl von<br />

Unbehagen und Verzweiflung ist niederschmetternd: „Wer ist dafür verantwortlich?<br />

Wie können wir einander verstehen?“ In gleichem Maße verstörend wie zutiefst bewegend<br />

erforscht die Geste des Künstlers die Möglichkeit von Empathie und erforscht die<br />

Wahrnehmung des „anderen“:<br />

Ich produzierte Episode 1 als Delegierter der Öffentlichkeit der Fernsehzuschauer, eines<br />

Publikums, das sich in erster Linie für sich selbst interessiert. Deshalb fragte ich die<br />

Leute nicht, wie es ihnen jetzt geht, nachdem ihnen die Beine amputiert wurden, oder<br />

stellte andere Fragen dieser Art. Doch befragte ich sie zu ihrer Einschätzung dazu, wie<br />

ich mich fühlte. Ob sie dachten, ich sei attraktiv oder wie ich daheim in Brüssel meine<br />

Freundin verführen solle. […] Ich drehte den Spieß um, weil es in Wirklichkeit viel mehr<br />

darum geht, wie wir uns fühlen, als wie sie sich fühlen.78<br />

Obwohl Martens’ Filmmaterial offenbar auch die üblichen Kriegsbilder liefert (Bilder<br />

von Städten in Trümmern, Flüchtlingslagern mit endlosen Zeltreihen, bis auf die<br />

Zähne bewaffneten Soldaten auf Grenzpatrouille, leidender Zivilbevölkerung, Hunger,<br />

Lebensmittelknappheit, Mitarbeitern von Hilfsorganisationen bei der Ausarbeitung<br />

von Hilfsprogrammen und Journalisten auf der Jagd nach Schreckens- und Katastrophenbildern),<br />

liegt das Augenmerk des Künstlers eher darauf, wie Moral und ethische<br />

Fähigkeiten in solchen Extremsituationen in Territorien unter Beschuss funktionieren.<br />

Martens deckt die Verlogenheit des globalen Mediensystems auf und den Zusammenbruch<br />

aller humanitären Hilfsmaßnahmen zur Linderung der Tragödie für die<br />

Bevölkerung der Kriegszone. In der Tat ist Episode 1 eine Studie des Missbrauchs und<br />

der Ausbeutung. „Ich will Tränen“, antwortet ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation,<br />

während er die Mechanismen der humanitären Hilfe aufdeckt, die von der Präsenz der<br />

Kameras und der Medienberichterstattung determiniert sind. Martens manipuliert das<br />

Gleichgewicht des moralischen Empfindens des Zuschauers noch weiter: Eingebettet<br />

in den quasi journalistischen Plot des Films und an das Genre des Tagebuchs oder<br />

des Liebesbriefs erinnernd, sind die persönlichen Gefühle, die der Künstler für seine<br />

Freundin Marie empfindet und die ihren Ausdruck in in den entscheidendsten und<br />

dramatischsten Augenblicken des Films direkt in die Kameralinse gerichteten Liebeserklärungen<br />

finden („Ich bin’s, Liebling. Es ist wirklich Zeit, dass du mich auch liebst“).<br />

Dies interpunktiert die Reise des Künstlers durch die Hölle und fungiert als klassischer<br />

Brecht’scher V-Effekt, durch den unser stereotyper Blickwinkel gebrochen wird und<br />

das Gefühl von Wahrheit und Aufrichtigkeit gestärkt wird. Als Balanceakt hart am<br />

Rand des ethisch Korrekten ist Renzo Martens’ provokanter Film sowohl künstlerische<br />

Selbstanalyse als auch seine politische, und zutiefst menschliche, Intervention in die<br />

Stofflichkeit des prekären Lebens, in dem Liebesgeschichte und die Schrecken des

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