Human Condition - Universalmuseum Joanneum
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140 — 141<br />
Judith Butler<br />
* In den bisherigen Übersetzungen<br />
der Texte von Lévinas war es<br />
manchmal üblich, bei visage vom<br />
„Antlitz des Anderen“ zu sprechen.<br />
Wie der Übersetzer Thomas<br />
Wiemer deutlich macht, hat diese<br />
Übersetzung auch Nachteile: „Sie<br />
versieht, gewollt oder ungewollt,<br />
die Lévinassche Diktion mit einer –<br />
zusätzlichen – Aura der Erhabenheit,<br />
die ihr nur zum geringeren<br />
Teil gerecht wird, während sie<br />
wichtigere andere Teile verdeckt.<br />
[…] Gerade an der ‚Materialität‘<br />
des visage versucht Lévinas<br />
zu entziffern, was über sie hinausweist;<br />
[…] Die Übersetzung<br />
Antlitz steht dieser Profilierung<br />
des Terminus eher im Wege.“<br />
Ich schließe mich der Auffassung<br />
von Thomas Wiemer an, derzufolge<br />
Gesicht die adäquatere Übersetzung<br />
für visage bzw. face ist.<br />
Vgl. Emmanuel Lévinas, Jenseits<br />
des Seins oder anders als Sein<br />
geschieht, Freiburg/München<br />
1992, Fußnote I, S. 43. [Anm. der<br />
Übersetzerin]<br />
ausge drückt, was uns moralisch verpflichtet, hat damit zu tun, wie wir von anderen<br />
angesprochen werden, in Formen, die wir nicht ver hindern oder vermeiden können. Dieser<br />
Einfluß, den die Anspra che des Anderen auf uns ausübt, konstituiert uns zuallererst<br />
gegen unseren Willen, oder vielleicht passender formuliert, noch vor der Ausbildung<br />
unseres Willens. Wenn wir also glauben, bei der mo ralischen Autorität gehe es darum,<br />
seinen eigenen Willen heraus zufinden und zu ihm zu stehen, dem Willen seinen Namen<br />
aufzu prägen, ist es möglich, daß wir die Art verfehlen, wie moralische Forderungen<br />
vermittelt werden. Das heißt, wir verfehlen die Si tuation des Angesprochenseins, die<br />
Forderung, die von anderswo an uns herantritt, manchmal ein namenloses Anderswo,<br />
von dem unsere Pflichten ausgesprochen und uns zugemutet werden.<br />
In der Tat gebe ich mir die Vorstellung von dem, was moralisch bindend ist, nicht selbst;<br />
sie entspringt nicht meiner Autonomie oder meiner Reflexivität. Sie fällt mir von<br />
anderswo zu, unerbe ten, unerwartet und ungeplant. Tatsächlich stört sie eher meine<br />
Pläne, und wenn meine Pläne durchkreuzt sind, kann das durch aus ein Zeichen dafür<br />
sein, daß etwas moralisch verpflichtend für mich ist. Wir glauben, Präsidenten würden<br />
ihre Sprechakte vor sätzlich vollziehen, so daß wir dann, wenn der Direktor eines<br />
Universitätsverlags oder der Präsident einer Universität spricht, die Erwartung haben,<br />
zu wissen, wovon sie sprechen, zu wem sie sprechen und mit welcher Absicht sie<br />
sprechen. Wir erwarten von der Ansprache, daß sie mit Autorität vorgetragen wird und<br />
in die sem Sinne verbindlich ist. Aber die Rede von Präsidenten ist selt sam in diesen<br />
Zeiten, und es wäre eine bessere Rhetorikerin nötig, als ich es bin, um das Mysteriöse<br />
ihrer Methoden zu durch schauen. Warum sollte zum Beispiel der Irak eine Gefahr für<br />
die Sicherheit der „zivilisierten Welt“ genannt werden, während von Nordkorea Raketen<br />
abgeschossen werden und sogar der Versuch einer Geiselnahme von USBooten<br />
gemacht wird und dies als „Regionalkonflikt“ bezeichnet wird? Und wenn der Präsident<br />
der USA von der Mehrheit der Staaten aufgefordert wurde, seine Kriegsandrohung<br />
zurückzunehmen, warum fühlte er sich dieser Ansprache dann so wenig verpflichtet?<br />
Angesichts des heillosen Durcheinanders, das die Präsidentschaftsansprachen erfaßt<br />
hat, sollten wir vielleicht ernsthafter über das Verhältnis von Formen der Ansprache<br />
und moralischer Autorität nachdenken. Das könnte uns dabei helfen, zu erkennen,<br />
welche Werte die Geistes wissenschaften zu bieten haben und in welcher Situation des<br />
Dis kurses die moralische Autorität verbindlich wird.<br />
Ich möchte gern auf das „Gesicht“,* eine von Emmanuel Lévinas eingeführte Vorstellung,<br />
eingehen, um zu erklären, wie es kommt, daß andere moralische Ansprüche an uns<br />
stellen, morali sche Forderungen an uns richten, die wir nicht wollen und die wir nicht<br />
ohne weiteres ablehnen können. Vorläufig stellt Lévinas eine Forderung an mich, aber<br />
seine Forderung ist nicht die ein zige, der ich zur Zeit nachkommen muß. Ich werde das<br />
skizzie ren, was für mich den Grundriß einer möglichen jüdischen Ethik der Gewalt losig keit<br />
ausmacht. Dann werde ich diesen Entwurf auf einige drängende Fragen der Gewalt<br />
und Ethik beziehen, die sich uns jetzt stellen. Die Lévinassche Vorstellung des „Gesichts“<br />
ist lange Zeit mit kritischer Bestürzung aufgenommen worden. Denn es scheint so zu<br />
sein, daß das „Gesicht“ des von Lévinas so genannten „Anderen“ eine ethische Forderung<br />
an mich stellt, und dennoch wissen wir nicht, welche Forderung es eigentlich stellt.<br />
Das „Gesicht“ des anderen kann nicht auf einen geheimen Sinn hin entziffert werden,<br />
und der Imperativ, den es übermittelt, ist nicht unmittelbar in eine Vorschrift übersetzbar,<br />
die sprachlich formuliert und befolgt werden könnte.<br />
Lévinas schreibt: „Die Annäherung an das Gesicht ist die ele mentarste Form von<br />
Verantwortung. […] Das Gesicht ist nicht vor mir (en face de moi), sondern über mir;<br />
es ist der andere vor dem Tod, er durchschaut den Tod und enthüllt ihn. Zweitens ist das<br />
Gesicht der andere, der mich bittet, ihn nicht allein sterben zu lassen, so als ob man<br />
bei seinem Tod zum Komplizen werden würde, wenn man das täte. Das Gesicht sagt<br />
mir also: Du sollst nicht töten. In der Beziehung zu dem Gesicht stehe ich da als ei ner,