Human Condition - Universalmuseum Joanneum
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29 Levy 1937, S. 644<br />
30 Bender u.a. 1941, S. 1169<br />
Der Mensch, ein durch und durch soziales Wesen<br />
Andere Wissenschaftler kamen unabhängig voneinander zu ähnlichen Er gebnissen<br />
wie die Objektbeziehungstheoretiker Fairbairn, Kohut, Winnicott und Suttie. In einer<br />
Reihe kontrollierter Studien mit Kindern, die in Waisen häusern oder bei Adoptiv-<br />
beziehungsweise Pflegeeltern aufgewachsen wa ren, gewannen Psychologen einige<br />
bedrückende Erkenntnisse, die offen sichtlich die Theorie vom Menschen als sozialem<br />
Wesen untermauerten.<br />
Das ursprüngliche Interesse des Psychoanalytikers David Levy richtete sich auf Kinder<br />
überfürsorglicher Mütter. Seine Kontrollgruppe bestand aus Kindern, die als Säuglinge<br />
überhaupt keine mütterliche Fürsorge genossen hatten und in der Folge unfähig waren,<br />
eine Bindung zu ihren Adoptiveltern zu entwickeln. Die meisten dieser Kinder hatten<br />
ein paar Jahre lang in Wai senhäusern gelebt, bevor sie in Familien vermittelt wurden.<br />
Schon bald ent deckte Levy bei den Kindern der Kontrollgruppe ein beunruhigendes<br />
Muster, das ihn veranlasste, sein Augenmerk jetzt ganz auf sie zu richten. Obwohl die<br />
Kinder, denen eine frühe Mutterbindung gefehlt hatte, nach außen hin durchaus ein<br />
liebevolles Verhalten zeigten, waren sie unfähig zu echter emo tionaler Wärme. Sie<br />
erwiesen sich oft als sexuell aggressiv, neigten zu unso zialem Verhalten und hatten<br />
in vielen Fällen ein beträchtliches Geschick beim Lügen und Stehlen entwickelt.<br />
Praktisch keines der Kinder war fähig, echte Freundschaften zu schließen. Levy zufolge<br />
waren sie außerstande, das gesamte Spektrum der Gefühle auszudrücken, die aus<br />
einer gesunden Bezie hung zu einer Mutterfigur erwachsen, weil ihr primärer Affekt<br />
nicht befriedigt wurde: Sie litten unter „Affekthunger“. Levy stellte die ziemlich<br />
beängs tigende Frage, ob es möglich sei, „dass es im emotionalen Leben zu Man gelerkrankungen<br />
kommen könnte, vergleichbar den physischen Folgen einer Mangelernährung<br />
beim sich entwickelnden Organismus“.29<br />
Andere Wissenschaftler machten ähnliche Beobachtungen bei Kindern, die in Waisenhäusern<br />
aufwuchsen. Loretta Bender, die Leiterin der Kinder psychiatrie am New Yorker<br />
Bellevue-Krankenhaus, stellte fest, dass diese Kinder beängstigend menschenfeindliche<br />
Züge aufwiesen. Sie schrieb:<br />
Sie haben kein Spielmuster und können sich nicht in eine spielende Gruppe ein bringen,<br />
sondern sie provozieren und ärgern andere Kinder, klammern sich an die Erwachsenen<br />
und neigen zu Wutausbrüchen, wenn man kooperatives Verhalten von ihnen verlangt.<br />
Sie sind hyperaktiv und unkonzentriert; persönliche Beziehun gen können sie überhaupt<br />
nicht einordnen, und sie verlieren sich in destruktiven Fantasien, die sich sowohl<br />
gegen die Welt als auch gegen sie selbst richten.30<br />
Kinder, die als Säuglinge keine mütterliche Fürsorge erlebt hatten, entwickelten<br />
demnach psychische Störungen.<br />
Der Mangel an mütterlicher Fürsorge wurde noch verschlimmert durch die strengen<br />
Hygienevorschriften in den Heimen, die ironischerweise ei gentlich der Gesundheit der<br />
Kinder dienen sollten. Wie im ersten Kapitel be reits beschrieben, wurde in Waisenhäusern<br />
und Pflegeheimen geradezu zwanghaft auf ein steriles Umfeld geachtet, das<br />
vor der Verbreitung von Krankheitserregern schützen sollte. Aus dem gleichen Grund<br />
war es für das Pflegepersonal verpönt, die Kinder anzufassen oder gar in den Arm zu<br />
neh men und mit ihnen zu schmusen. Die meisten Kinder tranken allein aus der Flasche,<br />
sodass es auch beim Füttern zu keinem Körperkontakt kam. Die Folge war, dass die<br />
Kinder verkümmerten. In einigen Waisenhäusern lag die Kindersterblichkeit in den<br />
ersten beiden Lebensjahren bei erschütternden 32 bis 75 Prozent. Obwohl ausreichend<br />
ernährt und gut gepflegt, starben die Kleinen zuhauf. Oft wurde ihr Tod irrtümlicherweise<br />
auf Unterernährung zurückgeführt, oder bei den Kindern wurde „Hospitalismus“