Human Condition - Universalmuseum Joanneum
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15 Vgl. Trawny, Denkbarer<br />
Holocaust, S. 76.<br />
16 Vgl. Kant, Kritik der<br />
Urteilskraft, B 158.<br />
Angelegenheiten, gelten muss: Denn hier wie da geht es um Einzelfälle, es gibt keinen<br />
Anspruch auf absolute Wahrheit, viele streiten sich darum, aber obwohl es keine<br />
objektive Meinung geben kann, ist doch auch nicht alles rein subjektivzufällig und<br />
beliebig.<br />
Das reflektierende Urteilen ist nämlich nicht bloß Wiedergabe einer privaten Empfindung,<br />
sondern gerade die Emanzipation von meiner unmittelbaren Betroffenheit,<br />
um mir einen weiteren Blickwinkel, die erweiterte Denkungsart (Kant) zu verschaffen.<br />
Arendt hält sich hier eng an Kant, der zwischen „Sinnengeschmack“ und „Reflexionsgeschmack“<br />
unterscheidet: Der Sinnengeschmack ist bloß eine private Empfindung,<br />
die auf meine bzw. auf die je eigene Sinnlichkeit beschränkt ist und meine zufällige<br />
unmittelbare Reaktion auf das, was mich affiziert, ausdrückt (z.B.: Spinat schmeckt<br />
mir). Im strengen Sinne fälle ich aber hier kein Urteil, sondern gebe bloß meinen<br />
Zustand wieder, stelle ihn fest, sage ihn aus – ich distanziere mich in keiner Weise von<br />
dem, was mich unmittelbar anspricht oder abstößt. Der Reflexionsgeschmack hingegen<br />
verlangt mir etwas ganz anderes ab. Er gibt keinen unmittelbaren Reiz wieder, sondern<br />
bringt mich in einen Denkprozess, dessen Ergebnis ein Urteil ist, das auf intersubjektive<br />
Zustimmung (nicht absolute Wahrheit!) Anspruch erhebt. Nur hier urteile ich<br />
wirklich und – ich müsste schon im Plural sprechen – nur hier tut sich etwas Verhandlungs<br />
würdiges auf, das über unsere private Sinnlichkeit hinaus ein Gegenstand<br />
der Kommunikation sein kann. Denn kommuniziert wird nicht über bloß private Lustempfindungen<br />
(das wäre sehr schnell uninteressant: ich mag Blau, du magst Gelb),<br />
sondern über solche, die wir teilen können, weil oder indem wir uns alle dazu in Distanz<br />
gesetzt haben. Der Gegenstand, das Ereignis, zeigt sich nun von mehreren Seiten.<br />
Es geht hier nicht darum, eine objektive Wahrheit über den Gegenstand zu erreichen,<br />
sondern ihn in seinen pluralen Erscheinungsweisen sich vorzustellen und sich dann<br />
zu fragen: Wie würde ich nun urteilen?<br />
Diese Übung im Denken, verschiedene Standpunkte einzunehmen, nennt Kant<br />
„ Operation der Reflexion“, deren erster Schritt darin besteht, „seine Einbildungskraft<br />
zu lehren, Besuche zu machen“. Arendt bringt dies wieder in Zusammenhang mit der<br />
Figur des „blinden Dichters“ (Homer), der nicht unmittelbar von dem Geschehen affiziert<br />
wird, weil seine Augen geschlossen sind. Dieses Vermögen der Distanzierung, der<br />
Repräsentation (wofür die Einbildungskraft zuständig ist) bringt uns in einen angemessenen<br />
Abstand zum Gegenstand. Es schafft die Bedingungen für eine relative<br />
Unparteilichkeit, ohne dabei empfindungslos zu werden – denn das Repräsentierte,<br />
Reflektierte affiziert mich ja noch immer, weckt Lust oder Unlust, aber eben auf einer<br />
anderen, vermittelten und nicht unmittelbarunausweichlichen Ebene.<br />
In einem weiteren Schritt nimmt Operation der Reflexion Kants Maximen des aufgeklärten<br />
Denkens in Anspruch: 1. selbst zu denken (vorurteilsfreie Denkungsart), 2. an der<br />
Stelle jedes anderen zu denken (erweiterte Denkungsart) und 3. mit sich selbst in Übereinstimmung<br />
zu denken (sich nicht zu widersprechen: konsequente Denkungsart).16<br />
Was heißt nun „an der Stelle jedes anderen denken“? Es kann natürlich weder bedeuten,<br />
den anderen das Denken abzunehmen, noch genau zu wissen, was der/die andere fühlt,<br />
bzw. an seiner/ihrer Stelle zu fühlen, das zu fühlen, was er/sie fühlt. In diesem Sinn<br />
kommt die Empathie nicht zum Tragen, wie Arendt ganz deutlich betont.<br />
Vielmehr geht es darum, dass ich verstehe, wo der/die andere steht, dass dies ein<br />
anderer Platz der Welt ist als meiner, von wo aus sich die Dinge anders zeigen. Es geht<br />
darum, eine andere Perspektive auf die Welt einnehmen zu können. Im Anschluss<br />
daran ist aber noch immer das Selbstdenken gefragt. Wie würde ich an dieser Stelle<br />
denken und urteilen? Denn ohne diese Möglichkeit müsste ich jedes andere Urteil von<br />
jedem anderen für richtig, oder besser: für unbeurteilbar und deshalb richtig halten –<br />
die Konsequenz wäre, dass es im Grunde nichts Gemeinsames mehr gäbe, über das wir