Human Condition - Universalmuseum Joanneum
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136 — 137<br />
Jeremy Rifkin<br />
42 Ebd., S. 312<br />
Für die Entwicklung einer sicheren Bindung kommt es nicht darauf an, wie lange eine<br />
Mutter ihr Kind im Arm hält, sondern wie sie es hält. Die Mütter sicher gebundener<br />
Kinder gingen viel zärtlicher und liebevoller und niemals grob mit ihrem Baby um. Und,<br />
was mindestens ebenso wichtig ist, sie nahmen es dann in den Arm, wenn das Baby<br />
es wollte, und zeigten damit, dass sie es als ein eigenständiges We sen mit individuellen<br />
Wünschen und Bedürfnissen wahrnahmen.<br />
Trotz dieser Befunde wurde nach wie vor Kritik an der Bindungstheorie geübt. Nahrung<br />
lieferte den Kritikern die Verhaltensgenetik. Studien mit eineiigen Zwillingen, die gleich<br />
nach der Geburt getrennt worden und in ver schiedenen Familien aufgewachsen waren,<br />
schienen die Theorie zu unter mauern, dass bei der emotionalen Entwicklung eines<br />
Menschen die Gene eine wichtigere Rolle spielen als das soziale Umfeld. In sehr vielen<br />
Fällen wurde eine geradezu unheimliche Übereinstimmung in der Gemütsverfas sung<br />
und im Verhalten dieser Zwillinge festgestellt, was Bowlbys Theorie wi dersprach. Allerdings<br />
waren sich sowohl er als auch Ainsworth der Tatsache bewusst, dass jedes Kind<br />
von Natur aus einen eigenen Rhythmus hat und für ein bestimmtes Bindungsverhalten<br />
prädisponiert ist.<br />
Somit lautet die Frage: Wenn man zugrunde legt, dass sowohl Anlagen als auch äußere<br />
Faktoren das Entstehen von Bindungen beeinflussen, muss man dann annehmen,<br />
dass eines eine größere Rolle spielt als das andere? Der Psy chotherapeut Robert Karen<br />
fand darauf eine eindeutige Antwort. Ihm zu folge ist das Gehirn eines Säuglings bei<br />
der Geburt weitgehend unstruktu riert, organisiert sich aber innerhalb der ersten fünf<br />
Monate. Der Stromkreis wird durch die Interaktion des Kindes mit der Mutter, die seine<br />
erste äußere Welt ist, geschaltet. Daraus kann man, sagt Karen, einen begründeten<br />
Schluss ziehen: „Die Fähigkeit des Säuglings, sich vor allem in den Bereichen, die sich<br />
auf das Emotionale beziehen, einzustellen und anzupassen, hängt von der Einstellung<br />
und der Empathie der Eltern ab; und wenn die Mutter nicht fähig ist, sich emotional auf<br />
das Kind einzustellen, kann das Gehirn des Kindes bleibende Schäden davontragen.“42<br />
——<br />
Die Objektbeziehungstheorie hält der menschlichen Natur einen neuen Spiegel vor,<br />
und was wir darin von unserer Spezies sehen, ist ein liebevolles, fürsorgliches Lebewesen,<br />
das sich nach Gesellschaft sehnt und vor Einsam keit fürchtet und das biologisch<br />
prädisponiert ist, anderen Geschöpfen Em pathie entgegenzubringen.<br />
Sind wir aber die einzigen unter den sozialen Lebewesen, die fähig sind, untereinander<br />
und unseren Mitgeschöpfen gegenüber Empathie an den Tag zu legen? In den letzten<br />
zehn Jahren gewonnene wissenschaftliche Erkennt nisse haben uns gezwungen, unsere<br />
Sicht der biologischen Evolution neu zu überdenken. Die überkommene Vorstellung<br />
von der Evolution als Wettlauf und Kampf um Ressourcen und Sicherung der Fortpflanzung<br />
weicht, zumin dest auf die Welt der Säugetiere bezogen, allmählich der<br />
Erkenntnis, dass es beim Überleben der Stärksten ebenso sehr auf soziale Fähigkeiten<br />
und Ko operation ankommen könnte wie auf Muskelkraft und Konkurrenzverhal ten.<br />
Und wir sind offenkundig nicht allein mit unserer Fähigkeit zur Empa thie. Die neuen<br />
Erkenntnisse über die biologischen Wurzeln unseres Sozialverhaltens beginnen sich<br />
modellhaft darauf auszuwirken, wie wir die lebendige Welt und unsere eigene Rolle<br />
in der fortlaufenden Geschichte des Lebens auf der Erde betrachten.