29.07.2013 Aufrufe

Human Condition - Universalmuseum Joanneum

Human Condition - Universalmuseum Joanneum

Human Condition - Universalmuseum Joanneum

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

100 — 101<br />

Sophie Loidolt<br />

Daniel Wiesenfeld,<br />

animal laborans: Putzfrau, 2006<br />

Öl auf Leinwand; 120 × 200 cm<br />

Daniel Wiesenfeld,<br />

animal laborans: Büro, 2006<br />

Öl auf Leinwand; 120 × 200 cm<br />

17 Scholem, Briefe, Brief 64<br />

(23. Juni 1963), S. 98.<br />

18 Arendt, Ich will verstehen,<br />

S. 35.<br />

19 Vgl. Arendt, Vom Leben<br />

des Geistes, S. 14 f.<br />

20 Arendt, Vita activa, S. 157.<br />

21 Kant, Kritik der Urteilskraft,<br />

B 28.<br />

22 Ibid., B 122. Das Urteilen<br />

bestünde also darin, sich ein<br />

Bild zu machen, das die unmittelbaren<br />

Instinkte der Masse<br />

nicht bedienen kann – und sich<br />

trotzdem nicht in einen elitären<br />

weltabgewandten Raum zurückzieht,<br />

sondern sich sehr wohl<br />

der öffentlichen Beurteilung und<br />

Zustimmungsfähigkeit aussetzt.<br />

23 Arendt, Was ist Politik?, S. 181.<br />

Arendt bezieht sich in diesem<br />

Fragmenttext auf Nietzsche.<br />

urteilen und uns trefflich streiten könnten: Es gäbe keinen sensus communis mehr,<br />

also keinen „gemeinschaftlichen Sinn“, das, worauf ich beim anderen Anspruch erhebe,<br />

wenn ich ihm mein Urteil „ansinne“ (so Kant) – wir hätten, so Arendt, keine gemeinsame<br />

Welt (im Sinne eines Bezugsgewebes) mehr, die ja nur im gemeinsamen Kommunizieren<br />

über diese Welt entsteht und immer neu entsteht und sich dynamisch verändert.<br />

Jeder würde stattdessen in seinem eigenen sensus privatus (Privatsinn oder: logischer<br />

Eigensinn) festsitzen, dessen schnelles Überhandnehmen zum ideo­logischen Eigensinn,<br />

der keinen anderen Standpunkt mehr einbeziehen kann, von Kant als ein Merkmal<br />

der Verrücktheit diagnostiziert wird.<br />

Deshalb ist es Arendt auch so wichtig zu betonen, dass dieses Urteilen, das zumindest<br />

versucht, an anderen Stellen zu denken, unentbehrlich ist, wenn wir gemeinsam, mit<br />

anderen, „Sorge für die Welt“ tragen wollen. In diesem Sinn antwortet sie auch an<br />

Gershom Scholem (der bezüglich der Eichmann­Kontroverse gemeint hatte: „Ich maße<br />

mir kein Urteil an. Ich war nicht da.“17): „Und wenn Sie vielleicht recht haben, daß es<br />

ein ‚abgewogenes Urteil‘ noch nicht geben kann, obwohl ich es bezweifle, so glaube<br />

ich, daß wir mit dieser Vergangenheit nur fertig werden können, wenn wir anfangen zu<br />

urteilen, und zwar kräftig.“18 Es geht Arendt also weniger um eine Letztgültigkeit des<br />

Urteils oder um eine Angst vor dem falschen Urteilen, sondern darum, überhaupt im<br />

Urteilsprozess zu bleiben. Denn viel bedenklicher ist es für sie, gar nicht mehr zu urteilen.<br />

Und dies nicht nur, weil das Urteilen für eine Aussöhnung notwendig ist, damit gestraft<br />

oder verziehen werden kann. Arendt diagnostiziert gerade mit dem Aufkommen des<br />

Totalitarismus und dem gleichzeitigen Zusammenbruch des alten Wertesystems die<br />

(wahrscheinlich hier erst sichtbar werdende) Unfähigkeit, selbst zu denken und zu<br />

urteilen. Das Phänomen Eichmann, so Arendt, ist vor allem auch durch die Unfähigkeit<br />

oder durch die Ausschaltung (auf jeden Fall den Nicht­Gebrauch) der eigenen Urteilskraft<br />

zu charakterisieren.19<br />

Die Emanzipation, die also im Verstehens­ und Urteilsprozess stattfindet, ist eine<br />

Emanzipation von der Befangenheit im bloß eigenen Standpunkt und eine Selbstbefreiung<br />

auf eine gemeinsame Welt hin. Dieses Gemeinsame ist kein Absolutes, Monolithisches,<br />

das auf eine Konsenspflicht hinausläuft, sondern ein „Zwischen“, das immer in<br />

Verhandlung bleibt und sinn­ und weltbildend fungiert, solange die Kommunikation und<br />

das lebendige Urteilen aufrechterhalten werden. Für diese Emanzipation brauchen wir<br />

die Empathie nicht im Sinne des Mitleids oder des Mit­den­anderen­Fühlens, sondern<br />

im Sinne des Verstehens und des Urteilens. Denn die verschiedenen Standpunkte sollen<br />

nicht auf einen zusammengeschmolzen werden, sondern einen Zwischen-Raum der<br />

Kommunikation eröffnen, in dem allein Lösungen gefunden werden können, von denen<br />

sich andere nicht vereinnahmt oder bevormundet fühlen. Dafür brauchen wir auch die<br />

erweiterte Denkungsart, die es einzuüben und an Erzählungen, Urteilen und Diskussionen<br />

zu erproben gilt: Denn ohne diese wird man nie eine andere Person erreichen, nie so<br />

sprechen können, dass sie einen versteht, letztlich selbst nie verstehen können, was<br />

gemeinsame Welt ist und sein kann – über einen geteilten Globus hinaus.<br />

Urteilen bedeutet also nicht, sich über die Leidenden als bloß gefühlloser Zuschauer<br />

hinwegzuemanzipieren, sondern es bedeutet, so Arendt, verantwortlich die Aufgabe zu<br />

übernehmen, Sinn zu verstehen, das Zwischen offen zu halten, und „Sorge um die Welt“<br />

zu tragen. Emanzipation muss daher noch eine weitere Dimension haben: die des<br />

Handelns. Und Handeln bedeutet bei Arendt immer miteinander handeln – also weder<br />

gegeneinander noch füreinander handeln. Die reine Absicht des „für“ – die gute Tat – ist<br />

nicht das, was Arendt als die höchste Form der Freiheit, die sie den „Sinn von Politik“<br />

nennt, betrachtet: vielmehr ist es das „acting in concert“, die Erfahrung des Miteinander­<br />

etwas­Bewirkens, etwas Neues zu beginnen, die Welt zu verändern.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!