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Human Condition - Universalmuseum Joanneum

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1 Emmanuel Lévinas und Richard<br />

Kearney, „Dialogue with Emmanuel<br />

Lévinas“, in: Face to Face with<br />

Lévinas, Albany: SUNY Press 1986,<br />

S. 23 f. [Bei der französischen<br />

Version des Gesprächs, die unter<br />

dem Titel „De la phéno ménologie<br />

à l’éthique. Entretien avec<br />

Emmanuel Lévinas“ in der Zeitschrift<br />

Esprit, Nr. 234, 1997,<br />

S. 121–140, erschienen ist, handelt<br />

es sich um eine von Lévinas<br />

nicht durchgesehene Übersetzung<br />

aus dem Englischen; daher wird<br />

hier nach der englischen Fassung<br />

zitiert; Anm. der Übersetzerin.]<br />

Lévinas entwickelt diese Vorstellung<br />

zuerst in Totalität und<br />

Unendlichkeit. Versuch über die<br />

Exteriorität (1961), übers. von<br />

W. N. Krewani, Freiburg/ München:<br />

Alber 1987, S. 267–318. Ich<br />

entnehme meine Zitate seiner<br />

späteren Arbeit, weil ich glaube,<br />

daß sie eine reifere und prägnantere<br />

Formulierung des Gesichts<br />

hergeben.<br />

2 Emmanuel Lévinas, Ethik<br />

und Unendliches, Gespräche<br />

mit Philippe Nemo, übers. von<br />

Dorothea Schmidt, Wien: Passagen<br />

1992, S. 66. Im Text wird hierauf<br />

mit EU verwiesen.<br />

3 Emmanuel Lévinas, „Paix et<br />

Proximité“, in: Emmanuel Lévinas,<br />

Altérité et Transcendance, Paris<br />

1995: Fata Morgana, S. 138–150.<br />

Verweise im Text mit dem Sigel PP.<br />

der sich den Platz des anderen widerrechtlich aneignet. Das gefeierte ‚Existenzrecht‘,<br />

das Spinoza conatus essendi nannte und als das Grundprinzip aller Intelligibilität<br />

definierte, wird durch die Beziehung zu dem Gesicht in Frage gestellt. Dementspre chend<br />

hebt meine Pflicht, auf den anderen einzugehen, mein na türliches Recht auf Überleben,<br />

le droit vital, auf. Meine ethische Beziehung der Liebe für den anderen verdankt sich<br />

der Tatsache, daß das Selbst für sich allein nicht überleben kann, in seinem eige nen<br />

In­der­Welt­Sein keinen Sinn finden kann. […] Mich der Verletzlichkeit des Gesichts<br />

auszusetzen heißt, mein ontologisches Existenzrecht in Frage zu stellen. In der Ethik<br />

hat das Existenzrecht des anderen Vorrang vor meinem eigenen, ein Vorrang, der in<br />

dem ethischen Edikt verkörpert wird: Du sollst nicht töten, du sollst das Leben des<br />

anderen nicht gefährden.“1<br />

Lévinas schreibt weiter: „Das Antlitz ist das, was man nicht töten kann oder dessen<br />

Sinn zumindest darin besteht, zu sagen: ‚Du darfst nicht töten‘. Es stimmt, der Mord<br />

ist ein banales Faktum: Man kann den Anderen töten; die ethische Forderung ist<br />

keine ontologische Notwendigkeit. […] Sie erscheint auch in der Hei ligen Schrift, der<br />

die Menschlichkeit des Menschen, solange sie in der Welt involviert ist, ausgesetzt<br />

bleibt. Aber eigentlich ist die Erscheinung dieser ‚ethischen Merkwürdigkeiten‘ – die<br />

Mensch lichkeit des Menschen – innerhalb des Seins ein Bruch des Seins. Er ist von<br />

Bedeutung, selbst wenn das Sein sich wieder erneuert und sich wieder in die Gewalt<br />

bekommt.“2<br />

Das Gesicht spricht also genaugenommen nicht, aber was das Gesicht bedeutet,<br />

wird dennoch durch das Gebot „Du sollst nicht töten“ vermittelt. Es vermittelt dieses<br />

Gebot, ohne es wirklich aus zusprechen. Wir können dieses biblische Gebot offenbar<br />

verwen den, um etwas von der Bedeutung des Gesichts zu verstehen. Aber etwas fehlt<br />

hier, da das „Gesicht“ nicht in dem Sinne spricht, wie es der Mund tut; das Gesicht<br />

ist nicht auf den Mund reduzierbar, schon gar nicht auf irgend etwas, das der Mund<br />

zu sagen hat. Ir gendeiner oder irgend etwas anderes spricht, wenn das Gesicht mit<br />

einer bestimmten Art des Sprechens verglichen wird; es ist ein Sprechen, das nicht<br />

aus einem Mund kommt oder, falls es das tut, dort nicht seinen letzten Ursprung oder<br />

Sinn hat. Tatsächlich hat Lévinas in einem Aufsatz mit dem Titel „Paix et Proximité“<br />

klar gestellt, daß „das Gesicht nicht ausschließlich ein menschliches Gesicht ist“.3 Um<br />

dies zu erläutern, bezieht er sich auf Wassilij Grossmanns Text Leben und Schicksal,<br />

wo es um eine Geschichte geht, in der „die Familien, die Ehefrauen und die Eltern von<br />

poli tischen Häftlingen zur Ljubjanka nach Moskau reisen, um etwas Neues zu erfahren.<br />

Eine Schlange bildet sich an den Schaltern, wo die einen nur die Rücken der anderen<br />

sehen. Eine Frau wartet dar auf, daß sie an der Reihe ist: [Sie] hatte niemals gedacht,<br />

daß der Rücken eines Menschen so ausdrucksvoll sein und Seelenzustände auf so<br />

eindringliche Weise vermitteln könnte. Die Personen, die sich dem Schalter näherten,<br />

hatten eine besondere Art, ihren Hals und ihren Rücken zu strecken, die hochgezogenen<br />

Schultern hatten wie mit Sprungfedern gespannte Schulterblätter und schienen zu<br />

schreien, zu weinen, zu schluchzen“ (PP, S. 146 f.).<br />

Hier verhält sich der Begriff „Gesicht“ wie eine Katachrese: „Gesicht“ beschreibt den<br />

menschlichen Rücken, das Strecken des Halses, das Hochziehen der Schulterblätter wie<br />

„mit Federn ge spannt“. Und von diesen Körperteilen wiederum heißt es, daß sie weinen,<br />

schluchzen und schreien, als seien sie ein Gesicht oder vielmehr ein Gesicht mit<br />

einem Mund, einer Kehle, oder vielleicht sogar bloß ein Mund und eine Kehle, aus denen<br />

Vokalisierungen hervorgehen, die sich nicht zu Worten fügen. Das „Gesicht“ be findet<br />

sich gleichsam am Rücken und am Hals, aber es entspricht nicht ganz einem Gesicht.<br />

Die Laute, die von dem Gesicht kom men, sind gequält, leidend. Wir können also bereits<br />

sehen, daß das „Gesicht“ aus einer Reihe von Ersetzungen zu bestehen scheint,<br />

so daß ein Gesicht die Gestalt eines Rückens erhält, der wiederum in einem figürlichen<br />

Sinn als ein Schauplatz gequälter Vokalisie rung erscheint. Und obwohl hier viele Namen

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