Human Condition - Universalmuseum Joanneum
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1 Freud 1997, S. 42<br />
2 Ebd., S. 60<br />
3 Ebd., S. 66<br />
Teil I<br />
Homo empathicus<br />
Kapitel 2<br />
Der neue Blick auf die menschliche Natur<br />
Woraus sind wir gemacht? In einer Zeit, die besessen ist von materiellen Interessen,<br />
verwundert es nicht, wenn Biologen – ganz zu schweigen von Che mikern und Physikern –<br />
auf der Suche nach dem Inbegriff des Lebens materielle Erklärungen herangezogen<br />
haben. Bis vor kurzem waren auch die meisten Philosophen überzeugt, dass wir von<br />
Grund auf materialistische Wesen sind. Und selbst die Psychologen der ersten Stunde –<br />
obwohl sie sich weniger mit philosophischen Betrachtungen über das Wesen des<br />
Menschen befassten als mit klinisch-wissenschaftlichen Beobachtungen dazu, wie die<br />
menschliche Psyche funktioniert – hielten an den alten Vorurteilen über die materielle<br />
Prägung der menschlichen Natur fest. Wie bereits Adam Smith gingen sie davon aus,<br />
dass jeder Mensch im Kern darauf aus sei, sein pures wirtschaftliches Eigeninteresse<br />
zu verfolgen. Und mit Darwin waren sie der Ansicht, dass die erste Sorge jedes Menschen<br />
dem eigenen physischen Überleben und der Fortpflanzung gelte.<br />
Freud: der letzte große Utilitarist<br />
Auch wenn Sigmund Freud als Vordenker gilt, der dem Blick auf die mensch liche<br />
Natur eine vollkommen neue Perspektive gegeben hat, folgt er in den wichtigsten<br />
und grundlegendsten Aspekten seiner theoretischen Überle gungen strikt dem<br />
materialistischen Drehbuch. Es ist ihm gelungen, eine weltliche Variante der mittelalterlichen<br />
These von der grundsätzlich verderbten Natur des Menschen mit dem<br />
materialistischen Narrativ der Aufklärung des 18. Jahrhunderts zu verbinden. Sein<br />
erschreckendes Bild der menschlichen Natur war so eindrucksvoll und gewaltig, dass<br />
es unsere Wahrnehmung bis zum heutigen Tag geprägt hat und sich in allen Bereichen<br />
der Gesellschaft – ob in der Erziehung, dem Sozialverhalten, der Wirtschaft oder<br />
der Politik – niederschlägt.<br />
Freud hat uns als sein großes Erbe die Sexualisierung des materiellen Ei geninteresses<br />
hinterlassen. Und es dauerte nicht lange, bis sein sexualisier tes Menschenbild von<br />
John B. Watson, einem anderen Pionier der neuen Wissenschaft, der die eben gewonnenen<br />
Einsichten auf das Gebiet der Wer bepsychologie übertrug, aufgegriffen wurde.<br />
Man kann sicher mit Fug und Recht behaupten, dass der Siegeszug des Konsumkapitalismus<br />
zu einem nicht geringen Teil auf die Erotisierung der Sehnsüchte und<br />
Wünsche und die Sexualisierung des Konsums zurückzuführen ist. Werbebotschaften<br />
sind durchdrungen von erotischen Assoziationen.<br />
Freud stellt die Frage an den Anfang, was die Menschen „vom Leben for dern, in ihm<br />
erreichen wollen“, und übt den Schulterschluss mit den Utilita risten des 19. Jahrhunderts,<br />
wenn er über das menschliche Streben nach Glück sinniert: „Dies Streben<br />
hat zwei Seiten, ein positives und ein negatives Ziel, es will einerseits die Abwesenheit<br />
von Schmerz und Unlust, andererseits das Erleben starker Lustgefühle.“1 Und er geht<br />
noch einen Schritt weiter in seiner Argumentation: „Wenn wir ganz allgemein annehmen,<br />
die Triebfeder aller menschlichen Tätigkeiten sei das Streben nach den beiden zusammenfließenden<br />
Zielen, Nutzen und Lustgewinn, so müssen wir dasselbe auch für die<br />
hier angeführten kulturellen Äußerungen gelten lassen …“2<br />
Weil die „geschlechtlichen Beziehungen“ dem Menschen „die stärksten Befriedigungserlebnisse<br />
gewähren, ihm eigentlich das Vorbild für alles Glück geben“, sei es naheliegend<br />
für ihn, „die genitale Erotik in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen“.3 Der<br />
Wunsch nach sexueller Befriedigung sei so stark, dass die gesamte äußere Wirklichkeit