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Human Condition - Universalmuseum Joanneum

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130 — 131<br />

Jeremy Rifkin<br />

23 Ebd., S. 157<br />

24 Ebd., S. 155<br />

25 Suttie 1952, S. 4, 6<br />

26 Ebd., S. 16<br />

27 Ebd., S. 22<br />

28 Ebd., S. 50<br />

vermag, gründet in der Omnipotenz der frühen Phase, die dank der Anpassungstechnik<br />

der Mutter Realität wird.23<br />

Wenn es die Mutter beispielsweise nicht zulässt, dass der Säugling die Brust warze<br />

spielerisch entdeckt und auf magische Weise erschafft, sondern sie ihm quasi in den<br />

Mund schiebt, dann nimmt sie ihm die Möglichkeit, das Sinnesgedächtnis aufzubauen,<br />

das er braucht, um sich später als Individuum wahrzunehmen, das mit von ihm<br />

getrennten anderen interagiert. Die Mutter hilft ihrem Kind also durch die Art, wie<br />

sie in diese erste Beziehung mit ihm eintritt, eine eigenständige Person zu werden.<br />

Winnicotts Fazit lautet: „Vielleicht ist die Tatsache, daß der Säugling das Bedürfnis<br />

hat, die Mutterbrust selbst zu erschaffen, die wichtigste Information, mit der der<br />

Psychologe, wenn sein Wissen von der Gesellschaft akzeptiert wird, zur psychischen<br />

Gesundheit ihrer Mitglieder beitragen kann.“24<br />

lan Suttie ging noch einen Schritt weiter und lieferte eine Erklärung der menschlichen<br />

Natur, die Freuds Theorie diametral entgegengesetzt ist. Seine These: „Die biologische<br />

Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme könnte psy chologisch im seelischen Empfinden<br />

des Säuglings gespiegelt sein, nicht als ein Bündel praktischer Notwendigkeiten<br />

und möglicher Entbehrungen, son dern als Lust an der gegenseitigen Gesellschaft<br />

und in der Entsprechung als Unbehagen an Einsamkeit und Isolation.“ Er sieht im<br />

„angeborenen Bedürf nis nach Gesellschaft“ das wichtigste Mittel der Selbsterhaltung<br />

eines Säug lings und den eigentlichen Wesenskern des Menschen – denn in Wahrheit<br />

sind wir, so Suttie, ausgesprochen gesellige Wesen.25 Er geht davon aus, dass alle<br />

späteren Interessen des Individuums – die Art, wie es spielt oder sich in Konkurrenzsituationen<br />

verhält, seine Kooperationsfähigkeit und seine kul turellen und politischen<br />

Prägungen – ein Ersatz für die allererste Beziehung, die Bindung zwischen dem<br />

Säugling und seiner Mutter, sind. „Mit diesem Ersatz“, bemerkt Suttie, „setzen wir das<br />

gesamte soziale Umfeld an die Stelle, die einmal von der Mutter besetzt war.“26<br />

Für ihn war das Spielen die wichtigste gesellschaftliche Aktivität, weil im Spiel Kameradschaften<br />

entstehen, Vertrauen gebildet wird und Fantasie und Kreativität zum Einsatz<br />

kommen. Im Spiel können wir die existenzielle Angst vor der Einsamkeit überwinden<br />

und das Gefühl der Gemeinsamkeit wieder herstellen, das wir bei unserer uranfänglichen<br />

Spielgefährtin, unserer Mut ter, erstmals entdeckt haben: „Die Zeitspanne<br />

zwischen Kindheit und Er wachsenenalter wird von einem fast unstillbaren Bedürfnis<br />

nach Geselligkeit bestimmt, das sich der formbaren Kraft menschlicher Interessen<br />

zur Befrie digung im Spiel bedient.“27<br />

Den Gedanken, dass alle menschlichen Beziehungen, selbst die eines Säuglings, von<br />

dem Wunsch bestimmt sind, Macht über andere zu gewinnen, lehnt Suttie ab. Für ihn<br />

kann es keinen vermeintlichen Urzustand kindlicher Allmachtsgefühle geben, weil es<br />

auch kein ursprüngliches Selbstbewusstsein gibt. Erst wenn sich die Mutter weigert,<br />

sich dem Säugling zuzuwenden, oder wenn sie seine Liebesbezeugungen zurückweist,<br />

entstehen „Angst, Hass und Aggressionen (die Freud irrtümlich für einen primären<br />

Trieb hält) und das Streben nach Macht“.28<br />

Zu Beginn seines Lebens verfügt ein Kind demnach über das instinktive, wenn auch<br />

noch unausgereifte Bedürfnis zu geben und zu nehmen – die Grundvoraussetzung für<br />

Liebe und soziales Verhalten. Die Beziehung zwi schen Mutter und Kind ist symbiotisch,<br />

und sie erfordert ein angemessenes Gleichgewicht zwischen dem Austeilen und dem<br />

Empfangen von Liebesbe weisen. Soziales Verhalten beruht auf Gegenseitigkeit, sie<br />

ist die Grundlage aller Beziehungen. Wenn die Gegenseitigkeit nicht funktioniert, wird<br />

die Entwicklung des Selbst und des Sozialverhaltens gehemmt, und es entstehen<br />

seelische Störungen.

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