Human Condition - Universalmuseum Joanneum

102 — 103
Sophie Loidolt
24 Arendt, Verstehen und Politik,
S. 126.
25 Vgl. Trawny, Verstehen und
Urteilen, S. 286 f.
ermöglicht und nicht bloß die Illusion eines vernetzten Globus in endloser virtueller
Bilderflut über die Bildschirme flimmern lässt.
Dafür gilt es auch – um noch einmal auf die Arendt’sche Variante der Empathie zu
kommen –, um ein „verstehendes Herz“ zu bitten, wie es König Salomon getan hat,
dessen Geschichte Arendt in dem Aufsatz Verstehen und Politik mit Nachdruck zitiert.
Das „verstehende Herz“ ist das „größte Geschenk, das ein Mensch erhalten und sich
wünschen kann“: „Allein das menschliche Herz – von Sentimentalität gleich weit entfernt
wie von allem Papierenen – ist in der Welt bereit, die Last zu tragen, welche die göttliche
Gabe des Handelns, des Ein­Anfang­Seins und deshalb des Fähigseins, einen
Anfang zu machen, uns auferlegt hat.“24 Wir brauchen – so Arendt – die Urteilskraft
mithilfe des verstehenden Herzens als ein Vermögen jenseits des „Kopfes“ und
des „Bauches“, als ein Vermögen, das sich zwischen dem bloß Intellektuellen und dem
bloß Emotionalen aufhält und im Verstehen nicht die Stärke zu handeln verliert.
Dieses Verstehen darf vielmehr praktische Konsequenzen beanspruchen 25, gerade in
einer Welt, in der wir nicht mehr selbstverständlich heimisch sind, die in ihrer Globalität
vielmehr „unheimlich“ und wüstenhaft werden kann; eine Welt, in der die gängigen
Kategorien und Maßstäbe, die alten Traditionen und metaphysischen Welt­ und
Geschichtsbilder weggebrochen sind und/oder zunehmend global aufgebrochen werden.
Die reflektie rende Urteilskraft und das verstehende Herz sind gerade da gefragt, wo
wir ohne Geländer sind.