Nr. 49, Mai - DS-InfoCenter
Nr. 49, Mai - DS-InfoCenter
Nr. 49, Mai - DS-InfoCenter
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
WOHNEN<br />
Karen zieht in eine eigene Wohnung<br />
– weitergehen und gehen lassen<br />
Cathy Slater<br />
Juni dieses Jahres zog unsere 25-jährige<br />
Tochter Karen in eine eigene Wohnung.<br />
Sie benutzt das Modell „shared<br />
ownership“ von einer Housing Association,<br />
das ihr mehr Sicherheit gibt, als<br />
wenn sie einen regulären Mietvertrag<br />
hätte. Karen bekommt von der Sozialverwaltung<br />
Geld in einen Fonds eingezahlt.<br />
Mein Mann, mein Bruder und ich<br />
sind die Verwalter. Um selbstständig zu<br />
wohnen, hat Karen Unterstützung von<br />
vier Assistentinnen, jede von ihnen arbeitet<br />
zirka 19 Stunden in der Woche,<br />
sie werden aus dem Fonds bezahlt.<br />
Von 1997 bis 2000 besuchte Karen<br />
das Derwen College in Shropshire, wo<br />
sie enorm viele neue Fertigkeiten gelernt<br />
hatte, sowohl im sozialen wie im<br />
kognitiven Bereich. Dort machte sie<br />
auch zum ersten Mal die Erfahrung, wie<br />
es ist, nicht mehr zu Hause zu wohnen,<br />
genau wie ihre Schwester, die drei Jahre<br />
lang zwecks Studium in einer anderen<br />
Stadt lebte.<br />
Ein Jahr nachdem Karen aus Derwen<br />
zurückkam, zog sie zusammen mit<br />
einem jungen Mann mit Down-Syndrom<br />
in eine Dreizimmerwohnung. Es gab sowohl<br />
einen Nachtdienst (sleep-in) wie<br />
einen Tagesassistenten, die von unterschiedlichen<br />
Organisationen vermittelt<br />
wurden. Nach neun Monaten scheiterte<br />
dieses Experiment.<br />
Wir schauten uns dann einige Wohngruppen<br />
an und realisierten schon bald,<br />
dass so ein Modell – mit drei, vier oder<br />
mehr Personen, nur auf Grund eines gemeinsamen<br />
niedrigen IQ, zusammen in<br />
eine Wohngruppe „gesteckt“ zu werden<br />
– für Karen keine gute Basis sein konnte,<br />
langfristig erfolgreiche Beziehungen<br />
aufzubauen. Karen selbst war auch gar<br />
nicht interessiert.<br />
Die eigene Wohnung gibt Karen jetzt<br />
die Möglichkeit, vollständig unabhängig<br />
zu sein. Karen ist eine ganz normale,<br />
durchschnittliche junge Dame mit Down-<br />
Syndrom. Sie braucht jemanden in der<br />
Nähe während der Nacht und sie<br />
braucht jemanden, der ihr hilft beim Ko-<br />
52 Leben mit Down-Syndrom <strong>Nr</strong>. <strong>49</strong>, <strong>Mai</strong> 2005<br />
chen, beim Umgang mit Geld, beim Organisieren<br />
ihrer Freizeitaktivitäten. Jeden<br />
Morgen verlässt sie um halb neun<br />
ihre Wohnung und fährt selbstständig<br />
mit dem öffentlichen Verkehr zum College.<br />
Bald nachdem sie nachmittags<br />
wieder zu Hause ist, kommt eine ihrer<br />
vier Assistentinnen, begleitet sie zu ihrer<br />
Jugendgruppe und hilft ihr bei allem,<br />
wofür sie Hilfe braucht.<br />
Drei Teammitglieder sind Studentinnen,<br />
eine macht eine Ausbildung als<br />
Heilerziehungspflegerin, eine lernt Ergotherapeutin<br />
und die Dritte studiert<br />
Sprachen. Die Vierte ist eine erfahrene<br />
Sozialpädagogin, die Karens Unabhängigkeit<br />
enorm positiv gegenübersteht<br />
und sie begeistert fördert.<br />
Wir empfinden es als einen Vorteil,<br />
dass die Assistentinnen jeweils nur Teilzeit<br />
arbeiten. Sie sind einfach „frischer“<br />
und sehen manches aus einer anderen<br />
Sicht als Fachleute, die Vollzeit in<br />
Wohngruppen arbeiten.<br />
Was ist Unabhängigkeit?<br />
Unabhängigkeit bedeutet nicht, dass<br />
der Mensch mit einer Einschränkung jeden<br />
einzelnen Handgriff selbst ausführen<br />
können muss. Es betrifft vielmehr<br />
die Art und Weise, wie die Person<br />
wohnt und dass sie die Möglichkeit hat,<br />
eigene Entscheidungen zu treffen. Karen<br />
bestimmt selbst, was sie essen<br />
möchte oder wie sie ihre Freizeit gestaltet,<br />
um nur einige der Entscheidungen<br />
zu nennen, die tagtäglich getroffen werden<br />
müssen. Ein weiterer Vorteil von<br />
dem direct payment (persönliches Budget)<br />
war, dass Karen (mit Hilfe ihres Betreuers<br />
und von uns) die Menschen, die<br />
bei ihr arbeiten sollten, selbst befragen<br />
und auswählen konnte. Auch die ganze<br />
Einrichtung ihrer Wohnung hat sie<br />
selbst ausgesucht.<br />
Eigene Wohnung, nicht zu nah und<br />
nicht zu fern<br />
Karen wohnt nur fünfzehn Minuten zu<br />
Fuß von uns entfernt, so sind wir nahe<br />
genug, dass wenn notwendig, wir gleich<br />
da sind, aber weit genug, dass Karen<br />
nicht einfach hier ihre Wäsche ablädt,<br />
damit ich das übernehme.<br />
Große Fortschritte<br />
Wir staunen, welche Fortschritte Karen<br />
in den vier Monaten seit sie ausgezogen<br />
ist, gemacht hat. Als sie in ihre Wohnung<br />
zog, beschränkten sich ihre Kenntnisse<br />
was Technik anbelangt auf das Bedienen<br />
eines Videorecorders, eines CD-<br />
Players und einer Mikrowelle, wobei jemand<br />
ihr noch sagen musste, wie viele<br />
Minuten eingestellt werden sollten.<br />
Sie hatte keine Ahnung, wie man eine<br />
Waschmaschine bedient, noch konnte<br />
sie allein etwas kochen, außer vielleicht<br />
eine Fertigsuppe.<br />
Kürzlich hatte eine ihrer Assistentinnen<br />
sich verspätet und ich konnte unmöglich<br />
einspringen, so musste Karen<br />
die Zeit allein überbrücken. Als die Assistentin<br />
bei Karen ankam, hatte sie die<br />
Waschmachine schon angemacht und<br />
allein eine ganze Mahlzeit vorbereitet.<br />
Sie hatte Kartoffeln geschält, gekocht<br />
und einen Kartoffelbrei gemacht, Gemüse<br />
gekocht und Fisch gegrillt, alles auf<br />
ihren Rollwagen gestellt, ins Esszimmer<br />
gerollt und den Tisch gedeckt. Zwei Wochen<br />
später erzählte eine andere Assistentin,<br />
dass Karen nun auch angefangen<br />
hat, selbstständig ihre Kleider zu bügeln.<br />
Wenn ich mit Karen telefoniere, bin<br />
ich beeindruckt, wie ihre Sprache sich<br />
verbessert hat. Wissend, dass sie für das<br />
eigene Telefon verantwortlich ist und<br />
sich auch Menschen verständlich machen<br />
muss, die nicht an ihre sonst verwaschene<br />
Sprache gewöhnt sind, hat<br />
dazu geführt, dass sich ihre Artikulation,<br />
ihre Grammatik und die Fähigkeit,<br />
sich auszudrücken, sehr gebessert haben.<br />
Freilich hat es während dieser vier<br />
Monate einige Unregelmäßigkeiten, Kopfzerbrechen<br />
und haarige Momente gegeben,<br />
aber das waren eigentlich alles<br />
Kleinigkeiten. Karens Selbstbewusstsein<br />
und ihr Gefühl von Humor sind indessen<br />
enorm gewachsen.<br />
Quelle: Journal, Down’s Syndrome<br />
Association, Issue 107, Winter 2005.<br />
Mit freundlicher Genehmigung der <strong>DS</strong>A.