Nr. 49, Mai - DS-InfoCenter
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„Et hätt noch immer jot jejangen“<br />
ERFAHRUNGSBERICHT<br />
Wie wir zu zwei Töchtern mit Down-Syndrom kamen<br />
Martina Zilschke<br />
Jedes Jahr erwischt mich eine milde<br />
Herbstdepression. Das Licht wird<br />
schwächer, der Antrieb, irgendetwas zu<br />
tun, auch und die „ewige Frage wozu“<br />
(Gottfried Benn) stellt sich mit erdrückender<br />
Häufigkeit. So weit, so<br />
schlecht.<br />
Doch im November 1997 erwischte<br />
uns etwas, das uns wirklich in den<br />
Grundfesten unseres Seins erschütterte:<br />
die endgültige Diagnose unserer Kinderlosigkeit.<br />
Und dabei wäre doch alles so ideal<br />
gewesen: das Haus gebaut, der Baum<br />
gepflanzt – aber das Kind eben nicht<br />
zeugbar, „nur durch In-Vitro-Fertilisation<br />
eine 20-%-Chance“. Nein danke!<br />
„Können Sie sich als Adoptivkind<br />
ein behindertes Kind vorstellen?<br />
Nachdem einige Nächte durchgeweint<br />
waren, begannen wir zu reden. Als<br />
Pädagogen arbeiteten wir beide ja mit<br />
„anderer Leut Kinder“. Warum also keinen<br />
Antrag auf Adoption stellen? Und so<br />
kam „ein Dienstweg“ in Gang, an dessen<br />
Beginn erst einmal ein Fragebogen<br />
stand. Eine dieser Fragen veränderte<br />
unser Leben nachhaltig:<br />
„Können Sie sich als Adoptivkind ein<br />
behindertes Kind vorstellen – und wenn<br />
ja, unter welchen Bedingungen ...?“<br />
Ich hatte Sonderpädagogik und Musik<br />
studiert und arbeitete zu diesem Zeitpunkt<br />
bereits seit neun Jahren mit integrativen<br />
Gruppen an der Musikschule<br />
Leichlingen. Menschen mit Behinderungen<br />
waren mir und meinem Mann vertraut.<br />
Nur – wie würde es sein, immer<br />
mit einem Behinderten zu leben, nie<br />
nach Hause gehen zu können, nie auf einem<br />
Abiball als stolze Eltern zu sitzen?<br />
Tausende solcher Fragen gingen uns<br />
durch den Kopf. Mein recht umfangreiches<br />
Wissen über Behinderungsarten<br />
war da nicht unbedingt hilfreich, denn:<br />
Bei einem behinderten Neugeborenen<br />
ist der Schweregrad einer Behinderung<br />
nicht abzuschätzen. Aber irgendwann<br />
gewann unser Vertrauen in das Leben<br />
selbst mit einer guten Portion kölschem<br />
Fatalismus: „Et hätt noch immer jot jejangen.“<br />
Und somit wurde die Frage im<br />
Fragebogen mit ja beantwortet. Und es<br />
kam ein kleiner Zusatz dazu: Es könnte<br />
ein Kind mit Down-Syndrom sein.<br />
Fragebogen zu Ende ausgefüllt, in<br />
den Umschlag gesteckt und persönlich<br />
zum Jugendamt gebracht.<br />
Dienstwege dauern etwas länger. So<br />
kam es, dass unser erster Hausbesuch<br />
erst am 21.Oktober 1998 zustande kam,<br />
dem Geburtstag unserer ersten Tochter<br />
(von der zu diesem Zeitpunkt noch kei-<br />
ner etwas ahnte). Die Gerüchte über solche<br />
Hausbesuche stimmen alle: Es werden<br />
einem tausend Fragen gestellt. Uns<br />
wurden allerdings zweitausend Fragen<br />
gestellt, war so ein Anliegen doch recht<br />
ungewöhnlich und musste ziemlich hinterfragt<br />
werden. Beendet wurde der Besuch<br />
mit der Aussage, dass nun noch<br />
drei weitere Besuche ins Haus stünden<br />
und sich so ein Verfahren eben sehr ziehen<br />
würde. Und wir bekämen dann irgendwann<br />
Bescheid, wann der nächste<br />
Termin ins Haus stünde. Mit Sicherheit<br />
jedoch nicht vor dem Jahreswechsel.<br />
Drei Wochen später kam ein Anruf<br />
aus dem Jugendamt: Es wären da einige<br />
Termine ausgefallen – und ob ein<br />
weiterer Termin am 15. Dezember 1998<br />
möglich sei.<br />
Ich fand das sehr merkwürdig. Mein<br />
Mann bat innigst darum, dass ich mich<br />
bitte in nichts reinsteigern möge. Aber<br />
ich steigerte mich ... heimlich.<br />
Natürlich brachte besagter 15. Dezember<br />
dann genau die Nachricht, auf<br />
die wir gewartet hatten: Es gibt da ein<br />
Kind – ein Mädchen mit Down-Syndrom<br />
und Katarakt (grauer Star), gerade mal<br />
sieben Wochen alt.<br />
Weitere ereignisreiche und unbeschreiblich<br />
aufregende vier Wochen später<br />
lag sie dann auf dem eilends herbeigeschnorrten<br />
Wickeltisch, schlief in der<br />
geliehenen Wiege und wurde unter Beobachtung<br />
meiner lieben Nachbarin<br />
zum ersten Mal von mir gewickelt. Wir<br />
lernten, die Kontaktlinse zu wechseln<br />
und Bobath zu turnen und waren ansonsten<br />
eine „ganz normale Familie“.<br />
Marie entwickelte sich erstaunlich rasant,<br />
drehte sich mit sechs Monaten,<br />
krabbelte mit zwölf Monaten und lief mit<br />
knapp anderthalb Jahren.<br />
Und da wurde unser Wunsch, das<br />
noch einmal zu probieren, immer größer.<br />
Und so kam Lily in unser Leben.<br />
Marie war 20 Monate alt, als ein Anruf<br />
von einer Hebamme aus Hamburg kam.<br />
Ein kleines Mädchen von gerade einer<br />
Woche sei zur Adoption freigegeben. Ob<br />
Leben mit Down-Syndrom <strong>Nr</strong>. <strong>49</strong>, <strong>Mai</strong> 2005 61