PDF-Datei - Religiosophie
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gegensätzlich. Wenn beide Philosophen ihren jeweiligen Aussagen eine 60 %ige<br />
Wahrscheinlichkeit beimessen, liegen sie in ihren Bewertungen allerdings nur um 20 %<br />
auseinander. Bei dieser Situation würden sie sich wohl kaum wegen ihrer<br />
unterschiedlichen Überzeugungen ernsthaft in die Haare geraten. Jeder würde den<br />
anderen respektieren. Mit Jaspers würde möglicherweise jeder von ihnen sagen, dass er<br />
nicht sicher sei, ob er seine Aussage wirklich glaube, dass er lediglich zu glauben wage.<br />
Gleichwohl fließt das Wagnis des Glaubens an die Richtigkeit der jeweiligen Aussage in<br />
die Lebensauffassung des einzelnen ein. Dieses kann auch bei im übrigen, insbesondere<br />
hinsichtlich der ethischen Grundsätze, gleicher Lebensauffassung in Grenzsituationen zu<br />
einem anderen Verhalten führen. Derjenige, der sich entschieden hat, nicht an ein Leben<br />
nach dem Tod zu glauben, hängt möglicherweise mehr an seinem (irdischen) Leben als<br />
der andere, der nach seiner Überzeugung ja noch ein zweites erstrebenswerteres weil<br />
vollkommen glückseliges Leben hat. Letzterer könnte wegen dieser Überzeugung z. B.<br />
eher bereit sein, sich einer riskanten Operation zu unterziehen oder als Freiwilliger an<br />
einem Verteidigungskrieg teilzunehmen oder sein Leben für einen nahestehenden<br />
Menschen zu opfern.<br />
Eigene Glaubensgrundsätze<br />
(34) Welche Überzeugungen im Bereich des Übernatürlichen habe ich mir zu eigen<br />
gemacht?<br />
Ich habe mich nicht dazu entschließen können, an die Richtigkeit irgendeiner der in<br />
Abschnitt 31 wiedergegebenen drei Aussagen zu glauben.<br />
Zur Begründung führe ich zunächst an, dass unserer Beobachtung nur die sichtbare Welt<br />
zugänglich ist. Über die Frage, ob es daneben noch eine unsichtbare gibt, können wir<br />
nur spekulieren. Wir haben nicht die geringsten Anhaltspunkte. Vor diesem Hintergrund<br />
frage ich mich, warum ich an die Existenz einer unsichtbaren Welt glauben und mir diese<br />
dann noch in einer Reihe von Einzelheiten ausschmücken soll.<br />
(35) Martin Heidegger (1889-1976) unterscheidet zwischen dem Seienden und dem Sein,<br />
durch das alles Seiende erst ein Seiendes ist. Dieses Sein war bereits vor dem Urknall,<br />
wenn diese Theorie der Naturwissenschaftler richtig ist, und wird auch nach der in<br />
etlichen Milliarden Jahren zu erwartenden Implosion des Weltalls sein. Heidegger denkt<br />
sich dieses Sein als etwas Ungegenständliches und Unpersonifiziertes. Dem schließe ich<br />
mich an. Da ich nicht an einen Schöpfergott glaube, akzeptiere ich, dass das Entstehen<br />
des Seienden und damit auch des menschlichen Lebens für mich ein Geheimnis bleibt.<br />
(36) Die Entscheidung, in das Leben auf diesem Planeten einzutreten, haben unsere<br />
Eltern für uns getroffen und damit meines Erachtens eine kaum tragbare Verantwortung<br />
übernommen, können sie uns doch kein Leben frei von Angst und Leid garantieren. In<br />
diese Welt hineingeworfen (Heidegger spricht vom existenziellen Wurf ins Ungewisse),<br />
sind wir auf uns nahestehende Menschen, in erster Linie aber auf uns selbst gestellt. Wir<br />
können nicht erwarten, dass eine überirdische, uns wohlgesonnene Macht unseren<br />
Lebensweg begleitet und uns beschützt und auch nicht, dass es für uns ein glückseliges<br />
Leben nach dem Tode gibt. Vor unserer Zeugung gab es uns nicht und nach unserem<br />
Tod werden wir nicht mehr sein.