PDF-Datei - Religiosophie
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ihn gehört haben, reiht sich Govinda in die Schar seiner Anhänger ein. Siddhartha glaubt<br />
in Buddhas Lehre einen Widerspruch zu erkennen, der ihn veranlasst, weiterhin nach<br />
seinem Weg zu suchen. Buddha verabschiedet ihn mit den Worten: “Mögest du ans Ziel<br />
kommen.“ Das Gleiche wünscht Siddharta den Jüngern des Buddha und fügt hinzu:<br />
“Nicht steht mir zu, über eines anderen Leben zu urteilen! Einzig für mich, für mich<br />
allein muss ich urteilen, muss ich wählen, muss ich ablehnen.“ Jahrzehnte später<br />
begegnen sich Siddharta und Govinda wieder. Jeder ist seinen Weg gegangen. Siddharta<br />
hat sein Ziel gefunden, Govinda (noch) nicht. Er fragt seinen Freund: „Hast du eine<br />
Lehre? Hast du einen Glauben oder ein Wissen, dem du folgst, das dir leben<br />
und recht tun hilft?“ Siddharta muss ihn enttäuschen: „Ich habe Gedanken gehabt, ja,<br />
und Erkenntnisse, je und je. Ich habe manchmal Wissen in mir gefühlt, so wie man<br />
Leben in seinem Herzen fühlt. Manche Gedanken waren es, aber schwer wäre es für<br />
mich, sie dir mitzuteilen. ... Weisheit ist nicht mitteilbar. Weisheit, welche ein Weiser<br />
mitzuteilen versucht, klingt immer wie Narrheit.“<br />
Jeder muss also seinen Weg selbst finden, ungeachtet der Tatsache, dass es Menschen<br />
gibt, von denen er lernen kann, meist jedoch, ohne von ihnen Unterweisungen zu<br />
erhalten.<br />
In der folgenden Abhandlung setze ich mich mit verschiedenen Religionen auseinander,<br />
und zwar mit der Religion der Seele, den Religionen des Ich (hierzu gehören auch die<br />
Offenbarungsreligionen) und den Religionen der Erkenntnis, und entwickle dabei auf<br />
philosophischer Grundlage eine Religion für mich selbst. Diese hält die Existenz eines<br />
Schöpfergottes eher für unwahrscheinlich. Gleichwohl habe ich mir die Frage gestellt,<br />
was ich in Ansehung Gottes glauben würde oder könnte, wenn ich zu einem späteren<br />
Zeitpunkt hinsichtlich der Existenz eines Schöpfergottes zu der gegenteiligen Auffassung<br />
gelangen sollte. So sind zwei Religionen entstanden, die teilweise, insbesondere in<br />
Fragen der Ethik, deckungsgleich sind, sich aber in der Frage der Existenz Gottes und<br />
eines Lebens nach dem Tode voneinander unterscheiden. Die Bedeutung dieses<br />
zunächst möglicherweise groß erscheinenden Unterschieds relativiert sich, wenn man die<br />
Auffassung von Hirsi Ali teilt: “Religion ist die Art, wie wir uns anderen gegenüber<br />
verhalten.“<br />
In Teil 1 stelle ich die Religion der Seele den Religionen des Ich gegenüber, in Teil 2<br />
befasse ich mich mit Religionen der (philosophischen) Erkenntnis. In einem dritten Teil<br />
entwickle ich unter Bezug auf Gedanken der beiden ersten Teile die erwähnten neuen<br />
Religionen. Am Ende folgt ein Literaturverzeichnis. Wer vorab wissen möchte, zu<br />
welchen Ergebnissen ich gelangt bin, kann die letzten Seiten (Tz. 59: Quintessenz)<br />
zuerst lesen.<br />
Teil 1<br />
Religion der Seele (natürliche Religion) versus Religionen des Ich<br />
Religionsbegriff<br />
(1) Der Begriff Religion kommt vom lateinischen religere, d. h. sorgsam beachten. Was<br />
soll sorgsam beachtet werden? Herkömmlicher Weise die Lehren der jeweiligen