PDF-Datei - Religiosophie
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Hobbes in seinem Leviathan (I, 12): »Männer, Frauen, Vögel, Krokodile, Kälber, Hunde,<br />
Schlangen, Zwiebeln und Lauch wurden zu Göttern gemacht.«<br />
Und die Motive für solch verschwenderische Phantasiebildungen sind auch in keiner<br />
Weise geheimnisvoll. In der menschlichen Psyche gibt es breiten Raum für Infantilismus,<br />
für Irrationalität, für Panik und Erschütterung durch Schuld. Millionen im<br />
wissenschaftlichtechnischen Westen lassen sich in ihren täglichen Angelegenheiten von<br />
Astrologie leiten. Stehen am Dreizehnten des Monats morgens nicht auf, ohne<br />
andeutungsweise zu exorzistischen Maßnahmen Zuflucht zu nehmen. Betrachten<br />
schwarze Katzen als irgendwie höllisch und zittern vor Gewittern. Wir befinden uns<br />
immer noch in der Kinderstube potentieller Evolution. Man sehnt sich nach dem<br />
Kindermädchen und fürchtet es zugleich. Der Gedanke an kosmische Einsamkeit, die<br />
zugegebenermaßen der Intuition zuwiderlaufende Hypothese einer vollkommen<br />
aleatorischen, »sinnlosen« natürlichen Ordnung (»sinnlos« in bezug auf eine Handvoll<br />
von Hominiden in einer zufälligen Ecke einer durchschnittlichen Galaxis) sind für eine<br />
große Mehrheit von uns unerträglich. Wir verlangen nach einem Zeugen, selbst wenn er<br />
hart ins Gericht geht, für unseren kleinen Dreck. In Krankheit, in psychischem oder<br />
materiellem Entsetzen, wenn unsere Kinder tot vor unseren Augen liegen, schreien wir<br />
auf. Dass ein solcher Schrei im Nichts widerhallt, dass er ein völlig natürlicher, ja<br />
therapeutischer Reflex ist, aber nicht mehr, lässt sich fast nicht ertragen. Ohne Frage<br />
bringen der Glaube an die Wiederauferstehung von Elvis Presley oder Gebete an seiner<br />
neonbeleuchteten Grabstätte seinen Gläubigen Tröstung und rosarote Hoffnungen.<br />
Weltlich betrachtet, haben die organisierten Religionen viel zu den Schrecken der<br />
Geschichte beizutragen gehabt. Unzählige<br />
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Generationen, ethnische Gemeinschaften, soziale Gruppen sind im Namen dogmatischer<br />
Ansprüche gejagt, versklavt, massakriert oder zwangsbekehrt worden. Ein<br />
verschlungener, aber unübersehbarer Weg windet sich von den mittelalterlichen<br />
Pogromen bis zu den Todeslagern der Nazis. Der Islam hat seit seinen Anfängen<br />
umgebracht. Es ist eine banale Beobachtung, dass Religionskriege und die Ausrottung<br />
von Häresie mittels Kreuzzügen zu den grausamsten und kostspieligsten gehört haben,<br />
die wir kennen. Gegenwärtig toben, ob in Nordirland oder in Bosnien, im Nahen Osten<br />
oder in Indonesien, religiös-ideologische Konflikte. Der Atheismus kennt keine Ketzer,<br />
keine »heiligen Kriege« (ein obszöner Ausdruck). Nichts aus dem Innern seiner privaten,<br />
nichtinstitutionalisierten Struktur verlangt nach Hass. Von seinem Wesen her braucht er<br />
nicht auf Bekehrung aus zu sein. Solch seltene Beispiele eines »Zwangsatheismus« wie<br />
im stalinistischen Programm sind eine direkte Imitation, eine schwachsinnige Parodie der<br />
Staatskirche. Es lässt sich überdies nicht beweisen, dass das Verhalten des Gläubigen,<br />
der unter dem Druck religiöser Sanktionen und Belohnungen steht, das des Atheisten<br />
oder des agnostischen Humanisten übertrifft. Gier und Heuchelei gedeihen in<br />
Gesellschaften, die von der Synagoge, der Kirche oder der Moschee beherrscht werden.<br />
Anstand und Moral, die man sich selbst auferlegt, die man selbst hervorgebracht hat,<br />
sind auch säkulare Werte. So gibt, ein berühmter Fall, Iwan Karamasow, als er Zeuge<br />
wird, wie Gott nicht eingreift, als ein unschuldiges Kind zu Tode gepeitscht wird (ein<br />
alltägliches, tausendfach vorkommendes Geschehen), Gott seine »Eintrittskarte« zurück.