Magazin #22 - Der Club zu Bremen
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Literatur<br />
Betty Kolodzy<br />
nach Moskau. Das Geld bleibt liegen und führt die beiden am<br />
Ende nur in die Vahr. Berliner Freiheit, fast ist das ja schon<br />
außerirdisches Terrain.<br />
<strong>Der</strong> Scherenschnitt ist eine Kunstform, die im Biedermeier ihre<br />
Blütezeit hatte. Er stand für den Rück<strong>zu</strong>g ins Idyll, die Schau auf<br />
das Innere, das Gefühl, dass man als Bürger in Ruhe seinen ersten<br />
Pflichten nachgehen sollte. <strong>Bremen</strong> Walking ist, von dieser<br />
Historie her gesehen, ein fast schon unerhörter Buchtitel. Wo<br />
Kolodzy Fahrt aufnimmt, ist bestenfalls ein Fahrrad im Spiel,<br />
exemplarisch für die kurzen Wege geeignet und konstruiert. Man<br />
muss da<strong>zu</strong> nur wissen, dass das von dem badischen Forstmeister<br />
Karl Freiherr von Drais entwickelte Laufrad unmittelbar im Biedermeier<br />
wurzelt und dass es die Menschen dieser Epoche in gerade<br />
dem Maß beflügelte, das ihnen noch vertretbar erschien.<br />
<strong>Bremen</strong> Walking wirkt, wo es ums Fortkommen in einer deutschen<br />
Stadt des 21. Jahrhunderts geht, die wie kaum eine zweite<br />
von ihrer Verkehrswirtschaft lebt, wie ein Seitenhieb auf die<br />
diesen Umstand konsequent ausblendende bremische Verkehrspolitik.<br />
Am Sielwall pendelt eine Fähre, und einmal lässt die<br />
Autorin dort sogar einen Frachter an ihrem inneren Auge vorbeiziehen.<br />
Auch das Schiff in der Flasche steht ja für ein Idyll, und<br />
die Buddelschiffbauer verfügen, wie Betty Kolodzy, beim Ausgestalten<br />
ihrer Miniaturlandschaften über eine beachtenswerte<br />
Kunstfertigkeit.<br />
Lesenswert ist <strong>Bremen</strong> Walking daher vor allem, weil es sich<br />
schonungslos ein paar der in den letzten vierzig Jahren über die<br />
Hanse- und Handelsstadt <strong>Bremen</strong> gekommenen Mentalitäten annimmt.<br />
Man vergleiche dieses von Kolodzy in Trippelschritten<br />
vermessene Viertel mit seinen nicht weiter für erwähnenswert<br />
gehaltenen Randbezirken von vielfacher Ausdehnung einmal mit<br />
dem Ostertor-Quartier, das der heute in Berlin lebende Bremer<br />
Schriftsteller Rudolf Lorenzen im Jahr 1959 beschrieb.<br />
Sein Roman „Alles andere als ein Herr“ zeichnete das Bild eines<br />
in seiner Selbstgefälligkeit wie Bewegungsarmut erstarrten Kleinbürgerbezirks,<br />
mit allerdings annähernd so vielen Menschen, die<br />
es damals aus diesen Verhältnissen zog wie heute in solche<br />
hinein. <strong>Bremen</strong> Walking schließt einen Kreis, es spiegelt eine<br />
Drehbewegung vom Gelsenkirchner Barock, der Biedermeierzeit<br />
der Nachkriegsjahre, hin <strong>zu</strong> dem, was dieser Tage wie Vielfalt der<br />
Kulturen und Lebensstile aussieht, dabei aber eine Einfalt an<br />
den Tag legt, durch die sich Betty Kolodzy wie durch einen Reisbrei<br />
hindurch <strong>zu</strong> schreiben versucht. Was soll’s, scheint sie sich<br />
<strong>zu</strong> denken, wenn einem kein fernes Schlaraffenland winkt, kann<br />
man doch auch mit einem Stückchen Heimat vorliebnehmen,<br />
einem Spielkreis mit durchaus wunderlichen und der Beschreibung<br />
werten Menschen darin. Betty Kolodzy gleicht ein wenig<br />
einer Dachstubenpoetin, die unterm löchrigen Schirm ein Lob-<br />
lied der Bescheidenheit singt. Zu ihrem Glück und dann doch<br />
auch <strong>zu</strong>m Vergnügen ihrer Leser verfügt sie über eine gewisse,<br />
nicht nur von biedermeierlicher Ergriffenheit herrührende Selbstironie.<br />
<strong>Der</strong> Einfall, eine passable Großstadt wie die Briefmarkenwelt<br />
einer Kleinstadt an<strong>zu</strong>gehen, ist ja für sich genommen schon<br />
ganz schön verrückt.<br />
Betty Kolodzy, <strong>Bremen</strong> Walking. Michason & May, Frankfurt,<br />
180 Seiten, € 12,80, ISBN 978-3-86286-028-9<br />
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