27.10.2013 Aufrufe

Europa liest - Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit

Europa liest - Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit

Europa liest - Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

zu „liebling der Frauen“, weil Männer viel<br />

zu spröde erzogen werden, so dass heute 70<br />

prozent der Zuhörer Frauen sind. all das lag<br />

im Bereich harmlosen stichelns.<br />

lebensgefährlich wird es bei „Verräter“,<br />

zumal diese Kritik meist von arabischer<br />

seite kommt, oft von Menschen, die selbst<br />

nicht lesen und keine Kritik verstehen. Doch<br />

ehrlich gesagt war es mir gleichgültig, was<br />

die anderen sagten oder verschwiegen. im<br />

Nachhinein empfinde ich aber eine große<br />

Befriedigung, dass ich mit der hilfe meines<br />

publikums all diese hürden nehmen konnte.<br />

eine langjährige Freundin von mir und<br />

meiner literatur sagte mir einmal, sie lese<br />

meine Geschichten immer als trojanische<br />

pferde. ich fühlte mich ertappt. sie hatte<br />

mich durchschaut. Kein Wunder. sie <strong>liest</strong><br />

jährlich so viele Bücher wie selten eine andere<br />

person. sie macht Bücher.<br />

eine andere Freundin, sie ist schriftstellerin<br />

und Malerin, las meinen roman<br />

„Die dunkle seite der liebe“ und sagte mir:<br />

„Wenn auch nur ein syrischer General diesen<br />

roman <strong>liest</strong>, kriegst du keine amnestie,<br />

sondern lebenslänglich.“ sie bezog sich auf<br />

die initiative meiner Freunde, die vergeblich<br />

versucht haben, <strong>für</strong> mich eine amnestie zu<br />

bekommen. seit dem tod meiner Mutter<br />

will ich keine amnestie mehr.<br />

Diese Kollegin kennt meine Bücher sehr<br />

gut. sie ist die erste leserin aller meiner<br />

Werke. sie ist meine Frau.<br />

ich dachte aber, beide Frauen hätten den<br />

doppelten Boden erkannt, weil sie sehr klug<br />

und belesen sind. aber bald musste ich erfahren,<br />

dass auch weniger kluge und kaum<br />

des lesens mächtige Feinde mich durchschaut<br />

haben und mir daher unversöhnlich<br />

den Krieg erklärt haben. Kein autor genießt<br />

so viel Feindschaft seitens der Diktaturen<br />

und deren hofdichter wie ich. haben nicht<br />

For tschritt <strong>Europa</strong> ?<br />

schon die Nazis gegenüber den Büchern eine<br />

schärfere Wahrnehmung gehabt als die humanisten?<br />

und haben sie nicht barbarisch<br />

auch autorenwerke verbrannt, die man in<br />

den humanistischen Kreisen belächelte?<br />

langsam erkannte ich, dass Worte nicht<br />

geeignet sind <strong>für</strong> den aufbau von trojanischen<br />

pferden. sie sind durchsichtig wie<br />

Glas und können <strong>für</strong> eine Weile und bei<br />

günstiger spiegelung des lachens etwas tarnen,<br />

aber nach einer gewissen Zeit erkennt<br />

jeder die Botschaft einer literatur. eine Geschichte,<br />

die bei wiederholtem, sorgfältigem<br />

lesen ihre Geheimnisse nicht preisgibt, hat<br />

auch keine.<br />

Mein neuer roman ist ein unpolitisches<br />

Buch. er trägt den titel „Das Geheimnis des<br />

Kalligrafen“ und spielt in der Zeit von 1954<br />

bis 1958. er handelt nur von der liebe und<br />

dem Geheimnis eines Kalligrafen, das ihn<br />

noch ruinieren wird. ich wählte absichtlich<br />

die einzige lange phase der Demokratie in<br />

meinem land, weil ich einmal entspannt<br />

einen roman ohne politik schreiben wollte.<br />

Vom Frühjahr 1954 bis zur union mit Ägypten<br />

im Februar 1958 dauerte diese längste<br />

phase der Freiheit meines landes. Die parlamentarische<br />

Demokratie funktionierte mit<br />

vielen parteien und Zeitungen. Kein einziger<br />

Mensch saß seiner Meinung wegen im Gefängnis.<br />

es war eine wunderbare Zeit.<br />

Rafik Schami, 1946 in Damaskus geboren, lebt seit<br />

1971 in Deutschland. Heute zählt er zu den erfolgreichsten<br />

Schriftstellern in <strong>deutsch</strong>er Sprache. Sein<br />

Werk wurde in 22 Sprachen übersetzt.<br />

117

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!