Europa liest - Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit
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Buch noch ein langes leben hat, und das<br />
wird ihm gerade dann klar, wenn er liebenden<br />
Blickes seine eigenen regale mustert.<br />
Wären all diese informationen, die er<br />
da akkumuliert hat, seit den Zeiten Gutenbergs<br />
auf einem Magnetband aufgezeichnet<br />
worden, hätten sie dann wohl zwei-, drei-,<br />
vier-, fünfhundert, fünfhundertfünfzig Jahre<br />
überdauern können? und wären dann mitsamt<br />
den inhalten der Werke auch die spuren<br />
derer überliefert worden, die sie vor unserer<br />
Zeit berührt, aufgeschlagen, mit anmerkungen<br />
versehen, herumgestoßen und oft<br />
mit dreckigen Fingern beschmutzt haben?<br />
und könnte man sich in eine Diskette verlieben,<br />
so wie man sich in eine feste weiße<br />
Buchseite verlieben kann, die unter den Fingern<br />
knackt und knistert, als wäre sie gerade<br />
aus der Druckerpresse gekommen?<br />
Was <strong>für</strong> ein schönes und ein praktisches<br />
Ding ist ein Buch! es lässt sich überall in<br />
die hand nehmen, auch im Bett, auch in<br />
einem Boot, auch dort, wo es keine steckdosen<br />
gibt, auch wenn alle Batterien leer sind,<br />
es erträgt anstreichungen und eselsohren,<br />
man kann es auf den Boden fallen oder aufgeschlagen<br />
auf die Brust oder die Knie sinken<br />
lassen, wenn einen der schlaf überkommt,<br />
es passt in die Jackentasche, es kann angestoßen<br />
werden, es registriert die intensität,<br />
die Beharrlichkeit oder die regelmäßigkeit<br />
unserer lektüre, es erinnert uns daran (wenn<br />
es zu frisch und unberührt aussieht), dass wir<br />
es noch nicht gelesen haben.<br />
Das Format des Buches wird durch unsere<br />
anatomie bestimmt. es kann sehr große<br />
Bücher geben, aber die haben meist dokumentarische<br />
oder dekorative Funktion. Das<br />
standardbuch darf nicht kleiner als eine Zigarettenschachtel<br />
und nicht größer als eine<br />
Zeitung im tabloid-Format sein. seine Größe<br />
ist abhängig von den Dimensionen unserer<br />
hand, und diese haben sich – zumin-<br />
<strong>Europa</strong> <strong>liest</strong><br />
dest bisher – trotz Bill Gates nicht geändert.<br />
ich erinnere an die erste Buchmesse in turin,<br />
auf der man eine große abteilung <strong>für</strong> antiquarische<br />
Bücher reserviert hatte (danach<br />
scheint diese schöne Gewohnheit verloren<br />
gegangen zu sein). schulkinder kamen zu<br />
Besuch auf die Messe, und ich habe manche<br />
von ihnen an den Vitrinen kleben sehen,<br />
wo sie zum ersten Mal entdeckten, was ein<br />
richtiges Buch ist, nicht so ein heftchen am<br />
Bahnhofskiosk, sondern ein Buch mit allen<br />
attributen am richtigen Fleck. sie erinnerten<br />
mich an den Barbaren bei Borges, der zum<br />
ersten Mal jenes Meisterwerk der menschlichen<br />
Kunst sieht, das eine stadt ist. er fiel<br />
vor ravenna auf die Knie und wurde römer.<br />
Mir würde es genügen, wenn die Kinder aus<br />
turin wenigstens ein erhebendes Gefühl mit<br />
nach hause nahmen, vielleicht einen wohltätigen<br />
Wurmstich.<br />
ach ja, ich vergaß, zur leidenschaft<br />
des Bibliophilen gehören auch die Wurmstiche.<br />
Nicht alle vermindern den Wert eines<br />
Buches. einige wirken, wenn sie nicht den<br />
text affizieren, wie zarte Klöppelspitzen. ich<br />
gestehe hier, ich liebe auch diese. Natürlich<br />
bekunde ich gegenüber dem antiquar, der<br />
mir das Buch verkauft, Missfallen und abscheu,<br />
um den preis zu drücken. aber ich<br />
sage es offen, aus liebe zu einem schönen<br />
Buch ist man bereit zu jeder Gemeinheit.<br />
Aus dem Italienischen<br />
von Burkhart Kroeber<br />
Umberto Eco, Jahrgang 1932, lehrt als Professor<br />
<strong>für</strong> Semiotik an der Universität Bologna. Sein<br />
umfassendes Werk reicht von der „Geschichte<br />
der Schönheit“ bis zum Roman „Der Name der<br />
Rose“, durch den er zu Weltruhm gelangte. Der<br />
vorliegende Beitrag ist anlässlich seines Buches<br />
„Die Kunst des Bücherliebens“ entstanden, das<br />
2009 auf Deutsch im Münchner Carl Hanser Verlag<br />
erschienen und nicht nur <strong>für</strong> Bibliophile eine<br />
lohnenswerte Lektüre ist.<br />
17<br />
Für Umberto Eco besteht<br />
kein Zweifel: „Aus<br />
Liebe zu einem schönen<br />
Buch ist man bereit<br />
zu jeder Gemeinheit“,<br />
bekennt der Romancier,<br />
Wissenschaftler und<br />
Geschichtenerzähler<br />
aus Italien. Sein Band<br />
„Die Kunst des Bücherliebens“<br />
ist denn auch<br />
eine Huldigung <strong>für</strong> das<br />
Buch schlechthin, <strong>für</strong><br />
wirkliche Leser, die ihre<br />
Bücher nicht nur lesen,<br />
sondern zu Hause ins<br />
Regal stellen. Ein E-<br />
Book? Undenkbar!<br />
Umberto Eco: „Die<br />
Kunst des Bücherliebens“.<br />
Übersetzt<br />
aus dem Italienischen<br />
von Burkhart Kroeber.<br />
München, Carl Hanser<br />
Verlag 2009